Jesus ist unsere Versöhnung
Viele Jahre lang habe ich am Jom Kippur (deutsch: Versöhnungstag), dem höchsten jüdischen Festtag, gefastet. Ich tat dies im falschen Glauben, durch den strikten Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit an diesem Tag, mit Gott versöhnt zu sein. Viele von uns erinnern sich sicherlich noch an diese irrige Denkweise. Wie immer uns das erklärt wurde, die Absicht am Jom Kippur zu fasten, bestand darin, unserer Versöhnung (Ver-Sohn-ung [= Adoption als Söhne, Anm. des Üs]) mit Gott durch eigene Werke zu erlangen. Wir praktizierten ein religiöses System der Gnade plus Werke – und übersahen dabei die Realität, in der Jesus unsere Versöhnung ist. Vielleicht erinnern Sie sich noch an meinen letzten Brief. Es ging um Rosch Haschana, den jüdischen Neujahrstag, der auch als Posaunentag bezeichnet wird. Ich schloss mit dem Hinweis, Jesus habe die Posaune ein für alle Mal geblasen und sei der Herr des Jahres – ja sogar der Herr aller Zeiten. Als Vollender von Gottes Bund mit Israel (dem Alten Bund) hat Jesus, der Schöpfer der Zeit, alle Zeiten für immer verändert. Das vermittelt uns die Sichtweise des Neuen Bundes auf Rosch Haschana. Wenn wir Jom Kippur ebenso mit Augen auf den Neuen Bund betrachten, verstehen wir, Jesus ist unsere Versöhnung. Wie dies bei allen israelitischen Festtagen der Fall ist, weist der Versöhnungstag auf die Person und das Werk Jesu zu unserer Errettung und Versöhnung hin. Er verkörpert im Neuen Bund das alte israelitische System der Liturgie auf neue Weise.
Jetzt verstehen wir, die Feste des hebräischen Kalenders wiesen auf das Kommen Jesu hin und sind folglich überholt. Jesus ist bereits gekommen und hat den Neuen Bund eingesetzt. Wir wissen somit, Gott hat den Kalender als Hilfsmittel benutzt, damit wir erkennen, wer Jesus wirklich ist. Heute liegt unser Fokus auf den vier Hauptereignissen in Christi Leben – Jesu Geburt, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt. Jom Kippur wies auf die Versöhnung mit Gott hin. Wenn wir verstehen wollen, was das Neue Testament uns über Jesu Tod lehrt, dann sollten wir die alttestamentlichen Vorbilder zum Verständnis und der Anbetung vor Augen haben, die im Bund Gottes mit Israel (dem Alten Bund) enthalten sind. Jesus sagte, sie geben alle von ihm Zeugnis (Johannes 5,39-40).
Mit anderen Worten, Jesus ist die Linse, durch die wir die ganze Bibel richtig auslegen können. Das Alte Testament (das den Alten Bund einschliesst) verstehen wir jetzt durch die Linse des Neuen Testaments (mit dem Neuen Bund, den Jesus Christus vollständig erfüllt hat). Wenn wir in umgekehrter Reihenfolge vorgehen, kommen wir aufgrund falscher Schlussfolgerungen zu der Annahme, der Neue Bund würde erst mit der Wiederkunft Jesu beginnen. Diese Annahme ist ein fundamentaler Fehler. Einige glauben fälschlicherweise, wir befänden uns in einer Übergangszeit zwischen dem Alten und Neuen Bund und seien deshalb zum Halten der hebräischen Festtage verpflichtet.
Während seines Wirkens auf Erden erklärte Jesus die vorläufige Natur der israelitischen Anbetungsliturgie. Obwohl Gott eine spezielle Form des Gottesdienstes angeordnet hatte, verwies Jesus darauf, dass diese sich durch ihn ändern würde. Er betonte dies im Gespräch mit der Frau am Brunnen in Samaria (Johannes 4,1-25). Ich zitiere Jesus, der ihr erklärte, die Anbetung durch Gottes Volk werde nicht mehr zentral auf Jerusalem oder andere Orte beschränkt sein. An einer anderen Stelle versprach er, dass wo immer sich zwei oder drei versammeln würden, er mitten unter ihnen sei (Matthäus 18,20). Jesus sagte der Samariterin, mit der Beendigung seines Wirkens auf Erden, werde es nicht mehr länger so etwas wie einen heiligen Ort geben.
Bitte beachten Sie, was er ihr sagte:
- Es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet.
- Es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten (Johannes 4,21-24).
Mit dieser Erklärung eliminierte Jesus die Bedeutung des israelitischen Anbetungszeremoniells – ein System, das im Gesetz des Mose (dem Alten Bund) vorgeschrieben war. Jesus tat dies, weil er in persona fast alle Aspekte dieses Systems – mit dem Tempel in Jerusalem als Zentrum – in unterschiedlichster Weise erfüllen würde. Jesu Erklärung gegenüber der Samariterin zeigt auf, eine grosse Anzahl von Anbetungspraktiken nach der bisherigen buchstäblichen Weise seien nicht mehr erforderlich. Da Jesu wahre Anbeter nicht mehr nach Jerusalem reisen müssen, können sie sich nicht länger an die Vorschriften halten, die im Gesetz des Mose niedergeschrieben wurden, in dem das alte Anbetungssystem von der Existenz und der Nutzung des Tempels abhängig war.
Wir verlassen nun die Sprache des Alten Testaments und wenden uns ganz Jesus zu; wir wechseln vom Schatten ins Licht. Das bedeutet für uns, wir erlauben Jesus, uns persönlich in seiner Funktion als einzigem Mittler zwischen Gott und der Menschheit, unser Verständnis über die Versöhnung zu bestimmen. Als Sohn Gottes kam Jesus in eine Situation, deren Umstände schon lange vorher für ihn in Israel vorbereitet wurden und handelte gesetzestreu und schöpferisch, um den ganzen Alten Bund zu erfüllen, was auch die Erfüllung des Versöhnungstages einschliesst.
In seinem Buch Incarnation, (Menschwerdung), The Person and Life of Christ erklärt T. F. Torrance, wie Jesus unsere Versöhnung mit Gott vollbrachte: Jesus hat die Predigten von Johannes dem Täufer über die Ankündigung des Gerichts nicht zurückgewiesen: Im Leben Jesu als Mensch und vor allem durch den Tod Jesu, vollstreckt Gott sein Urteil über das Böse nicht dadurch, dass er das Böse einfach mit einem Handstreich gewaltsam hinwegfegt, sondern indem er voll und ganz auf den tiefsten Grund des Bösen eintaucht, um alle Schmerzen, alle Schuld und alles Leiden auf sich zu nehmen. Da Gott selbst eintritt, um das ganze menschliche Böse auf sich zu nehmen, hat seine Intervention in Sanftmut gewaltige und explosive Kraft. Das ist die wahre Macht Gottes. Deshalb ist das Kreuz (das Sterben am Kreuz) mit all seiner unbezwingbaren Sanftmut, seiner Geduld und seinem Mitgefühl nicht einfach ein Akt von erduldetem und bildgewaltigem Heroismus, sondern der mächtigste und aggressivste Akt, wie es Himmel und Erde nie zuvor erfahren haben: der Angriff der heiligen Liebe Gottes gegen die Unmenschlichkeit des Menschen und gegen die Tyrannei des Bösen, gegen alle sich auftürmenden Widerstände der Sünde (Seite 150).
Wenn man Versöhnung lediglich als eine gesetzliche Abwicklung im Sinne von sich wieder mit Gott verstehen betrachtet, so führt dies zu einer völlig unzureichenden Auffassung, wie sie leider viele Christen heutzutage haben. Einer solchen Ansicht mangelt es an Tiefe in Bezug auf das, was Jesus zu unseren Gunsten vollbracht hat. Als Sünder benötigen wir mehr als nur Freiheit vor der Strafe für unsere Sünden. Uns tut not, dass der Sünde selbst der Todesstoss versetzt wird, um so aus unserer Natur ausgerottet zu werden.
Genau das tat Jesus. Statt nur die Symptome zu behandeln, wandte er sich der Ursache zu. Die se Ursache kann man sehr passend als The Undoing of Adam (dt.: Adams Verderbtheit und Neuanfang), nach einem Buch von Baxter Kruger, bezeichnen. Dieser Titel sagt aus, was Jesus schliesslich durch die Versöhnung der Menschen mit Gott erreicht hat. Ja, Jesus zahlte die Strafe für unsere Sündhaftigkeit. Aber er tat weit mehr – er leistete kosmische Chirurgie. Er setz te der gefallenen, sündenkranken Menschheit ein Herztransplantat ein! Dieses neue Herz ist ein Herz der Versöhnung. Es ist das Herz Jesu – desjenigen, der als Gott und Mensch, der eine Mittler und Hohepriester, unser Erretter und älterer Bruder ist. Durch den Heiligen Geist, genau wie es Gott verheissen hat durch die Propheten Hesekiel und Joel, bringt Jesus neues Leben in unsere trockenen Glieder und schenkt uns neue Herzen. In ihm sind wir eine neue Schöpfung!
Verbunden mit Ihnen in der neuen Schöpfung,
Joseph Tkach
Präsident
GRACE COMMUNION INTERNATIONAL