Die von manchen Christen vertretene «Entrückungslehre» beschäftigt sich mit dem, was bei Jesu Wiederkehr – beim «Zweiten Kommen», wie es meist genannt wird – mit der Kirche geschieht. Die Lehre besagt, dass die Gläubigen eine Art Himmelfahrt erleben; dass sie hingerückt werden, Christus entgegen, irgendwann bei seiner Wiederkehr in Herrlichkeit. Als Belegstelle dient den Entrückungsgläubigen im Wesentlichen eine einzige Passage: «Denn das sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, dass wir, die wir leben und übrig bleiben bis zum Kommen des Herrn, denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind. Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Ruf ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und die Toten werden in Christus auferstehen zuerst. Danach werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken, dem Herrn entgegen in die Luft. Und so werden wir beim Herrn sein allezeit. So tröstet euch mit diesen Worten untereinander» (1. Thessalonicher 4,15-17).
Die Entrückungslehre scheint auf einen Mann namens John Nelson Darby um 1830 zurückzugehen. Er teilte die Zeit des zweiten Kommens in zwei Abschnitte. Zunächst, vor der Bedrängnis, werde Christus zu seinen Heiligen kommen, sie werden mit ihm Entrückung. Nach der Bedrängnis werde er mit ihnen auf die Erde zurückkommen und erst darin sah Darby die eigentliche Wiederkunft, das zweite Kommen Christi in Glanz und Herrlichkeit.
Die Entrückungsgläubigen vertreten verschiedene Ansichten darüber, wann die Entrückung mit Blick auf die «grosse Bedrängnis» (Tribulation) eintreten wird: vor, während oder nach der Bedrängnis. Zusätzlich gibt es noch eine Minderheitenmeinung, nämlich dass nur eine auserwählte Elite innerhalb der christlichen Kirche zu Beginn der Bedrängnis entrückt wird.
Wenn wir 1. Thessalonicher betrachten, scheint der Apostel Paulus nur zu sagen, dass beim Ertönen der «Posaune Gottes» die Toten, die in Christus gestorben sind, zuerst auferstehen und mit den noch lebenden Gläubigen gemeinsam auffahren werden «auf den Wolken in die Luft, dem Herrn entgegen». Dass die ganze Kirche – oder ein Teil der Kirche – vor, während oder nach der Bedrängnis entrückt oder an einen anderen Ort versetzt werden soll, davon ist nicht die Rede.
Matthäus scheint von einem ähnlichen Ereignis zu sprechen: «Sogleich aber nach der Bedrängnis jener Tage wird die Sonne sich verfinstern und der Mond seinen Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und dann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohns am Himmel. Und dann werden wehklagen alle Stämme der Erde und werden sehen den Menschensohn kommen auf den Wolken des Himmels mit grosser Kraft und Herrlichkeit. Und er wird seine Engel senden mit hellen Posaunen, und sie werden seine Auserwählten sammeln von den vier Winden, von einem Ende des Himmels bis zum andern» (Matthäus 24,29-31).
Bei Matthäus sagt Jesus, die Heiligen würden gesammelt «sogleich aber nach der Bedrängnis jener Zeit». Die Auferstehung, Sammlung oder, wenn man so will, die Entrückung findet summarisch bei Jesu zweitem Kommen statt. Aus diesen Schriftstellen sind die Unterscheidungen, welche die Vertreter der Entrückungslehre treffen, schwer nachzuvollziehen.
Aus diesem Grund vertritt die Kirche eine sachliche Auslegung der oben erwähnten Schriftstelle und sieht eine spezielle Entrückung nicht gegeben. Die fraglichen Verse besagen einfach, dass die toten Heiligen auferstehen und sich vereinigen werden mit jenen, die noch leben, wenn Jesus in Herrlichkeit wiederkehrt.
Die Frage, was mit der Kirche vor, während und nach Jesu Wiederkunft geschehen wird, bleibt in der Schrift weitgehend offen. Gewissheit haben wir dagegen darüber, was die Schrift klar und dogmatisch aussagt: Jesus wird wiederkehren in Herrlichkeit, um die Welt zu richten. Wer ihm treu geblieben ist, wird auferstehen und mit ihm leben auf ewig in Freude und Herrlichkeit.
von Paul Kroll