Es gibt zwar einige Psalmen, die sich mit der Geschichte des Volkes Gottes befassen, aber die meisten Psalmen beschreiben die Beziehung des Einzelnen mit Gott. Man mag annehmen, dass ein Psalm nur den Verfasser betraf und nicht unbedingt eine Verheissung für andere enthält. Wie dem auch sei, die Psalmen wurden in das Gesangbuch des alten Israels aufgenommen, um uns zur Beteiligung in eine Beziehung einzuladen, wie sie in diesen Liedern beschrieben wurde. Sie zeigen, dass Gott nicht nur eine Beziehung mit dem Volk als Ganzes anstrebte, sondern auch mit den einzelnen Menschen darin. Jeder konnte daran teilhaben.
Die Beziehung war jedoch nicht immer so harmonisch, wie wir es gern gehabt hätten. Die häufigste Form eines Psalms war die der Wehklage – fast ein Drittel der Psalmen wandten sich mit irgendeiner Art der Klage an Gott. Die Sänger beschrieben ein Problem und baten Gott, es zu lösen. Der Psalm war oft übertrieben und gefühlsbetont. Psalm 13,2-3 ist ein Beispiel dafür: „Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen?“ Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?“
Die Melodien waren bekannt, da die Psalmen oft gesungen wurden. Selbst diejenigen, die nicht persönlich betroffen waren, wurden aufgefordert, in den Klagegesang einzustimmen. Vielleicht, um sie daran zu erinnern, dass es einige in Gottes Volk gab, denen es wirklich schlecht ging. Sie erwarteten Gottes Eingreifen, wussten jedoch nicht, wann dies geschehen würde. Dies beschreibt auch unsere heutige Beziehung mit Gott. Obwohl Gott durch Jesus Christus aktiv eingeschritten ist, um unsere schlimmsten Feinde (Sünde und Tod) zu besiegen, nimmt er sich nicht immer unserer physischen Probleme so schnell an, wie wir uns das wünschen. Die Klagelieder erinnern uns, dass Schwierigkeiten längere Zeit anhalten können. Daher schauen wir weiterhin auf Gott und hoffen, er möge das Problem lösen.
Es gibt sogar Psalmen, die Gott vorwerfen, er würde schlafen:
„Wache auf, werde wach, mir Recht zu schaffen und meine Sache zu führen, mein Gott und Herr! Herr, mein Gott, verhilf mir zum Recht nach deiner Gerechtigkeit, dass sie sich nicht über mich freuen. Lass sie nicht sagen in ihrem Herzen: Da, da! Das wollten wir. Lass sie nicht sagen: Wir haben ihn verschlungen (Psalm 35,23-25).
Die Sänger haben sich nicht wirklich vorgestellt, Gott sei hinter der Richterbank eingeschlafen. Die Worte sind nicht als sachliche Darstellung der Wirklichkeit gemeint. Sie beschreiben eher die persönliche Gefühlslage – in diesem Fall ist es die Frustration. Das nationale Gesangbuch lud die Menschen ein, dieses Lied zu erlernen, um die Tiefe ihrer Gefühle auszudrücken. Selbst wenn sie in dem Moment nicht den im Psalm beschriebenen Feinden gegenüberstanden, so könnte der Tag kommen, wo dies einträfe. Deshalb wird in diesem Lied Gott um Vergeltung angefleht: "Sie sollen sich schämen und zuschanden werden, alle, die sich meines Unglücks freuen; sie sollen in Schmach und Schande sich kleiden, die sich wider mich rühmen (V. 26)".
In einigen Fällen, gehen die Worte „über das Übliche” hinaus – weit über das, was wir zu hören in der Kirche erwarten würden: „Ihre Augen sollen finster werden, dass sie nicht sehen, und ihre Hüften lass immerfort wanken. Tilge sie aus dem Buch des Lebens, dass sie nicht geschrieben stehen bei den Gerechten“ (Psalm 69,24.29). Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert! (Psalm 137,9)
Haben die Sänger das buchstäblich so gemeint? Vielleicht taten das einige. Aber es gibt eine verständnisvollere Erklärung: Wir sollten die extreme Sprache als Hyperbel verstehen – als emotionale Übertreibungen durch die der Psalmist ... Gott wissen lassen möchte, wie stark seine Gefühle in einer bestimmten Situation sind“ (William Klein, Craig Blomberg und Robert Hubbard, Introduction to Biblical Interpretation [dt. Einführung in die biblische Auslegung), S. 285).
Die Psalmen sind voll von gefühlsbetonter Sprache. Das sollte uns ermutigen, dass wir in unserer Beziehung mit Gott unsere tiefsten Gefühle ausdrücken dürfen und die Probleme in seine Hand legen können.
Einige Klagelieder enden mit dem Versprechen von Lob und Dank: „Ich danke dem Herrn um seiner Gerechtigkeit willen und will loben den Namen des Herrn, des Allerhöchsten“ (Psalm 7,18).
Das mag so aussehen, als würde der Verfasser Gott einen Tausch anbieten: Wenn du mir hilfst, dann werde ich dich loben. Doch tatsächlich lobt die Person Gott bereits. Die Bitte um Hilfe ist das implizierte Eingeständnis, dass Gott die Bitte erfüllen kann. Die Menschen er- warten bereits sein Eingreifen in der Not und hoffen darauf, sich an den kommenden Festtagen wieder zu den Gottesdiensten versammeln zu können, um Dank- und Loblieder anzustimmen. Auch deren Melodien kennen sie gut. Selbst die grossen Kummer Leidenden sind aufgefordert, die Dank- und Lob- Psalmen zu erlernen, denn es wird wie- der Zeiten im Leben geben, da diese Lieder auch ihre Gefühle zum Ausdruck bringen. Es drängt uns Gott zu preisen, selbst wenn es uns persönlich schmerzt, denn andere Mitglieder unserer Gemeinschaft dürfen Zeiten der Freude erleben. Unsere Beziehung mit Gott betrifft nicht nur uns als Einzelne – es geht darum, dass wir Mitglieder des Volkes Gottes sind. Wenn sich eine Person freut, so freuen wir uns alle; wenn eine Person leidet, so leiden wir alle mit. Psalmen des Kummers und Psalmen der Freude sind gleichermassen wichtig für uns. Selbst wenn wir viele Segnungen geniessen dürfen, klagen wir darüber, dass viele Christen wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Und auch sie singen Psalmen der Freuden im Vertrauen darauf, dass sie in der Zukunft bessere Tage sehen werden.
Psalm 18 ist ein Beispiel einer Danksagung für Gottes Rettung aus einer Notsituation. Der erste Vers des Psalms erklärt, dass David die Worte dieses Psalms sang „als ihn der Herr errettet hatte aus der Hand aller seiner Feinde“: Ich rufe an den Herrn, den Hochgelobten, so werde ich vor meinen Feinden errettet. Es umfingen mich des Todes Bande, und die Fluten des Verderbens erschreckten mich. Des Totenreichs Bande umfingen mich, und des Todes Stricke überwältigten mich. Als mir angst war, rief ich den Herrn an ... Die Erde bebte und wankte, und die Grundfesten der Berge bewegten sich und bebten ... Rauch stieg auf von seiner Nase und verzehrend Feuer aus seinem Munde; Flammen sprühten von ihm aus (Psalm 18,4-9).
Wieder benutzt David eine übertriebene Wortwahl, um etwas zu betonen. Jedes Mal, wenn wir aus einer Notlage gerettet wurden – egal, ob diese durch Eindringlinge, Nachbarn, Tiere oder eine Dürre verursacht wurde – danken und loben wir Gott für jegliche Hilfe, die er uns zukommen lässt.
Der kürzeste Psalm veranschaulicht das Grundkonzept einer Hymne: der Aufruf zum Lob gefolgt von einer Begründung: Lobet den Herrn, alle Heiden! Preiset ihn, alle Völker! Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit. Halleluja! (Psalm 117,1-2)
Gottes Volk ist aufgefordert, diese Gefühle als Teil ihrer Beziehung mit Gott in sich aufzunehmen: Es sind Gefühle der Ehrfurcht, Bewunderung und Sicherheit. Sind in Gottes Volk diese Gefühle der Sicherheit immer gegenwärtig? Nein, die Klagelieder erinnern uns, dass wir nachlässig sind. Erstaunlich an dem Buch der Psalmen ist, dass all die verschiedenen Arten von Psalmen zusammengemischt wurden. Lob, Dank und Klage sind mitei- nander verbunden; das spiegelt die Tatsache wider, dass Gottes Volk all diese Dinge erlebt und Gott mit uns ist, wohin wir auch gehen.
Einige Psalmen handeln von den Königen von Juda und wurden wahrscheinlich jedes Jahr bei den öffentlichen Festumzügen gesungen. Einige dieser Psalmen werden heute auf den Messias gedeutet, da alle Psalmen ihre Erfüllung in Jesus finden. Als Mensch durchlebte er – wie wir – Sorgen, Ängste, Gefühle des Verlassen seins, aber auch des Glaubens, des Lobes und der Freude. Wir preisen ihn als unseren König, als den Einen, durch den Gott uns die Erlösung brachte. Die Psalmen beflügeln unsere Vorstellungskraft. Sie stärken uns durch unsere lebendige Beziehung zum Herrn als Mitglieder des Volkes Gottes.
von Michael Morrison