Jesus stellt sechs alte Lehren den neuen Lehren gegenüber. Sechs Mal zitiert er die bisherige Lehre, meistens aus der Tora selbst. Sechs Mal erklärt er, dass sie nicht genügen. Er zeigt einen anspruchsvolleren Massstab der Gerechtigkeit auf.
„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: „Du sollst nicht töten [morden]“; wer aber tötet [mordet], der soll des Gerichts schuldig sein“ (V. 21). Dies ist ein Zitat aus der Tora, in der auch die bürgerlichen Gesetze zusammengefasst sind. Die Menschen hörten es, wenn ihnen die Schrift vorgelesen wurde. In der Zeit vor der Buchdruckerkunst haben die Menschen die Schrift meist gehört statt gelesen.
Wer redete die Worte des Gesetzes „zu den Alten“? Es war Gott selbst auf dem Berg Sinai. Jesus zitiert keine verfälschte Tradition der Juden. Er zitiert die Tora. Dann stellt er das Gebot einem strengeren Massstab gegenüber: „Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig“ (V. 22). Vielleicht war dies laut Tora sogar so beabsichtigt, aber Jesus argumentiert nicht auf dieser Grundlage. Er gibt nicht an, wer ihn zum Lehren bevollmächtigt hat. Was er lehrt, ist wahr, aus dem einfachen Grund, weil er der Eine ist, der es sagt.
Wir werden aufgrund unseres Zorns gerichtet. Jemand, der töten will oder jemand anderem den Tod wünscht, ist ein Mörder in seinem Herzen, selbst wenn er die Tat nicht ausführen kann oder will. Es ist jedoch nicht jeder Zorn eine Sünde. Jesus selbst war manchmal zornig. Aber Jesus sagt es deutlich: Jeder, der zornig ist, untersteht der Gerichtsbarkeit. Das Prinzip ist in harte Worte gefasst; die Ausnahmen sind nicht aufgeführt. An dieser Stelle und an weiteren Stellen in der Predigt stellen wir fest, dass Jesus seine Forderungen extrem deutlich formuliert. Wir können keine Aussagen aus der Predigt herausnehmen und so handeln, als gäbe es dazu keine Ausnahmen.
Jesus fügt hinzu: „Wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig“ (V. 22). Jesus verweist hier nicht auf neue Fälle an die jüdischen Führer. Es ist eher wahrscheinlich, dass er mit „Nichtsnutz“ einen Ausdruck zitiert, der bereits von den Schriftgelehrten gelehrt wurde. Als Nächstes sagt Jesus, dass die Strafe, die für eine bösartige Einstellung verhängt wird, weit über die des Zivilgerichtsurteils hinausreicht – es geht letztendlich bis vor das Jüngste Gericht. Jesus selbst hat Menschen als „Narren” bezeichnet (Matthäus 23,17, mit demselben griechischen Wort). Wir können diese Ausdrücke nicht als legalistische Regeln ansetzen, die buchstäblich zu befolgen sind. Es geht hier darum, etwas klarzustellen. Der Punkt ist, dass wir andere Menschen nicht verachten sollen. Dieses Prinzip geht über die Absicht der Tora hinaus, denn wahre Gerechtigkeit charakterisiert das Reich Gottes.
Jesus macht es durch zwei Gleichnisse deutlich: „Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere Jesus lebte in einer Zeit, als der Alte Bund noch gültig war und seine Bekräftigung der Gesetze des Alten Bundes bedeutet nicht, dass sie heute noch in Kraft sind. Sein Gleichnis weist darauf hin, dass zwischenmenschliche Beziehungen höher zu bewerten sind als Opfer. Wenn jemand etwas gegen Sie hat (ob berechtigt oder nicht), dann sollte die andere Person den ersten Schritt tun. Wenn sie es nicht tut, warten Sie nicht; übernehmen Sie die Initiative. Das ist leider nicht immer möglich. Jesus gibt kein neues Gesetz, sondern erklärt das Prinzip mit deutlichen Worten: Strebt danach, euch zu versöhnen.
„Vertrage dich mit deinem Gegner sogleich, solange du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überantworte und der Richter dem Gerichtsdiener und du ins Gefängnis geworfen werdest. Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast“ (V. 25-26). Noch einmal, es ist nicht immer möglich, Streitigkeiten ausserhalb des Gerichts zu regeln. Wir sollten auch nicht Ankläger, die uns unter Druck setzen, davonkommen lassen. Auch sagt Jesus nicht voraus, dass wir niemals Gnade vor einem Zivilgericht zugesprochen bekommen. Wie gesagt, wir können Jesu Worte nicht zu strikten Gesetzen erheben. Er gibt uns auch keinen weisen Rat, wie wir das Schuldgefängnis vermeiden können. Wichtiger ist ihm, dass wir den Frieden suchen, weil das der Weg wahrer Gerechtigkeit ist.
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen«“ (V. 27). Gott gab dieses Gebot auf dem Berg Sinai. Aber Jesus sagt uns: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen“ (V. 28). Das 10. Gebot verbot zu begehren, das 7. Gebot jedoch nicht. Es verbot „Ehebruch“ – ein Verhalten, das durch bürgerliche Gesetze und Strafen reglementiert werden konnte. Jesus versucht nicht, seine Lehre durch die Schrift zu festigen. Er muss es nicht tun. Er ist das lebendige Wort und hat mehr Autorität als das geschriebene Wort.
Jesu Lehren folgen einem Schema: Das alte Gesetz nennt eine konkrete Sache, aber wahre Gerechtigkeit erfordert viel mehr. Jesus macht extreme Aussagen, um es auf den Punkt zu bringen. Wenn es um Ehebruch geht, sagt er: „Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt, so reiss es aus und wirf’s von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Wenn dich deine rechte Hand zum Abfall verführt, so hau sie ab und wirf sie von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle fahre“ (V. 29-30). Natürlich wäre es besser, ein Körperteil zu verlieren als das ewige Leben. Aber das ist nicht wirklich unsere Alternative, da Augen und Hände uns nicht zur Sünde verleiten können; würden wir sie entfernen, so würden wir eine andere Sünde begehen. Die Sünde kommt aus dem Herzen. Was wir brauchen, ist, eine Veränderung unseres Herzens. Jesus betont, dass unser Denken einer Behandlung unterzogen werden muss. Es bedarf extremer Massnahmen, um die Sünde zu eliminieren.
„Es ist auch gesagt: „Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben“ (V. 31). Das bezieht sich auf die Schriftstelle in 5. Mo 24,1-4, welche den Scheidebrief als einen bereits eingeführten Brauch unter den Israeliten akzeptiert. Dieses Gesetz erlaubte einer verheirateten Frau nicht die Wiederheirat mit ihrem ersten Ehemann, aber abgesehen von dieser seltenen Situation, gab es keine Einschränkungen. Das Gesetz des Moses erlaubte die Scheidung, Jesus erlaubte sie jedoch nicht.
„Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe“ (V. 32). Das ist eine harte Aussage – schwer zu verstehen und schwer umzusetzen. Nehmen wir an, ein schlechter Mann verstösst seine Frau ohne irgendeinen Grund. Ist sie dann automatisch eine Sünderin? Und ist es eine Sünde für einen anderen Mann, dieses Opfer einer Scheidung zu heiraten?
Wir würden einen Fehler machen, wenn wir Jesu Aussage als unveränderliches Gesetz auslegen. Denn Paulus wurde durch den Geist gezeigt, dass es eine weitere legitime Ausnahme für eine Scheidung gibt (1. Korinther 7,15). Obwohl es sich hier um ein Studium der Bergpredigt handelt, sollten wir bedenken, dass Matthäus 5 nicht das letzte Wort zum Thema Scheidung behandelt. Was wir hier sehen, ist nur ein Teil des Gesamtbildes.
Jesu Aussage ist hier eine schockierende Feststellung, die etwas deutlich machen will – in diesem Fall heisst das, dass Scheidung immer mit Sünde verbunden ist. Gott beabsichtigte eine lebenslange Bindung in der Ehe und wir sollen danach streben, in der von ihm beabsichtigten Weise an ihr festzuhalten. Jesus unternahm hier nicht den Versuch, eine Diskussion darüber zu führen, was wir tun sollen, wenn die Dinge nicht so laufen wie sie sollten.
„Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist: »Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten«“ (V. 33). Diese Prinzipien werden in den Schriften des Alten Testaments gelehrt (4. Mo 30,3; 5. Mo 23,22). Doch was die Tora klar erlaubte, Jesus tat es nicht: „Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron; noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füsse; noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des grossen Königs“ (V. 34-35). Offensichtlich erlaubten die jüdischen Führer unter Berufung auf diese Dinge zu schwören, vielleicht um die Aussprache des heiligen Namens Gottes zu vermeiden.
„Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiss oder schwarz zu machen. Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel“ (V. 36-37).
Das Prinzip ist einfach: Ehrlichkeit – auf verblüffende Weise deutlich gemacht. Ausnahmen sind erlaubt. Jesus selbst ging über ein einfaches Ja oder Nein hinaus. Oft sagte er Amen, Amen. Er sagte, dass Himmel und Erde vergehen werden, aber seine Worte würden es nicht tun. Er rief Gott zum Zeugen, dass er die Wahrheit sagte. Ebenso verwendete Paulus in seinen Briefen einige eidliche Versicherungen, statt nur einfach Ja zu sagen (Römer 1,9; 2. Korinther 1,23).
So sehen wir erneut, dass wir die ausdruckstarken Aussagen der Bergpredigt nicht als Verbote betrachten müssen, die buchstäblich zu befolgen sind. Wir sollten einfach ehrlich sein, aber in bestimmten Situationen können wir die Wahrheit des von uns Gesagten besonders bekräftigen.
In einem Gericht, um ein modernes Beispiel zu verwenden, ist es uns erlaubt zu „schwören”, dass wir die Wahrheit sagen und wir können Gott deshalb um Hilfe anrufen. Es ist kleinlich zu behaupten, dass „eine eidesstattliche Erklärung“ akzeptabel sei, aber „Schwören“ sei es nicht. Im Gericht sind diese Worte gleichbedeutend – und beide sind mehr als ein Ja.
Jesus zitiert wieder aus der Tora: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«“ (V. 38). Es wird manchmal behauptet, dass dies bloss ein Höchstmass an Vergeltung im Alten Testament darstellte. Tatsächlich stellte es ein Maximum dar, aber manch- mal war es auch das Minimum (3. Mo 24,19-20; 5. Mo 19,21).
Jesus verbietet jedoch, was die Tora verlangt: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel“ (V. 39a). Aber Jesus selbst widersetzte sich schlechten Personen. Er trieb Geldwechsler aus dem Tempel. Die Apostel wehrten sich gegen falsche Lehrer. Paulus wehrte sich, indem er sich auf sein Recht als römischer Bürger berief, als Soldaten ihn geisseln sollten. Jesu Aussage ist wieder eine Überspitzung. Es ist erlaubt, sich gegen schlechte Personen zu wehren. Jesus erlaubt uns, z.B. gegen schlechte Personen vorzugehen, indem wir Straftaten der Polizei melden.
Die nächste Aussage Jesu muss ebenfalls als Überspitzung gesehen werden. Das bedeutet nicht, dass wir sie als irrelevant abtun können. Es geht vor allem um das Verständnis des Prinzips; wir müssen diesem erlauben, unser Verhalten einer Herausforderung auszusetzen, ohne aus diesen Regeln einen neuen Gesetzeskodex zu entwickeln, weil man davon ausgeht, dass Ausnahmen niemals zulässig seien.
„Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar“ (V. 39b). Unter bestimmten Umständen ist es das Beste, einfach wegzugehen, wie Petrus es tat (Apostelgeschichte 12,9). Es ist auch nicht falsch, sich wie Paulus mündlich zur Wehr zu setzen (Apostelgeschichte 23,3). Jesu lehrt uns ein Prinzip und nicht eine Regel, die strikt befolgt werden muss.
„Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will“ (V. 40-42). Wenn Leute Sie auf 10.000 Franken verklagen, dann müssen Sie ihnen nicht 20.000 Franken geben. Wenn jemand Ihnen das Auto stiehlt, müssen Sie Ihren Transporter nicht auch noch hergeben. Wenn ein Betrunkener Sie um 10 Franken bittet, müssen Sie ihm überhaupt nichts geben. Es geht Jesus bei seinen überzogenen Aussagen nicht darum, dass wir anderen Menschen gestatten müssen, sich einen Vorteil auf unsere Kosten zu verschaffen und auch nicht, dass wir sie dafür belohnen müssen. Vielmehr geht es ihm darum, dass wir keine Vergeltung üben. Seid darauf bedacht, Frieden zu stiften; versucht nicht, anderen einen Schaden zuzufügen.
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen“ (V. 43). Die Tora gebietet Liebe und sie befahl Israel alle Kanaaniter zu töten und alle Übeltäter zu bestrafen. „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“ (V. 44). Jesus lehrt uns einen anderen Weg, einen Weg, wie er in der Welt so nicht vorkommt. Warum? Was ist das Modell für all diese rigorose Gerechtigkeit?
„Damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel“ (V. 45a). Wir sollen ihm ähnlich sein und er liebte seine Feinde so sehr, dass er seinen Sohn sandte, um für sie zu sterben. Wir können unsere Kinder nicht für unsere Feinde sterben lassen, aber wir sollen sie genauso lieben und für sie beten, dass sie gesegnet seien. Wir können nicht mit dem Massstab mithalten, den Jesus als richtungsweisend vorgegeben hat. Aber unsere wiederholten Fehler sollten uns nicht davon abhalten, es trotzdem zu versuchen.
Jesus erinnert uns, dass Gott „die Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte” (V. 45b). Er ist gütig gegenüber jedermann.
„Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?” (V. 46-47). Wir sind berufen, mehr zu tun als das Übliche, mehr als unbekehrte Menschen tun. Unsere Unfähigkeit, perfekt zu sein, ändert nichts an unserer Berufung stets nach Verbesserung zu streben.
Unsere Liebe für andere soll vollkommen sein, sich auf alle Menschen erstrecken, das ist es, was Jesus beabsichtigt, wenn er sagt: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (V. 48).
von Michael Morrison