Das Reich Gottes (Teil 5)
Das letzte Mal haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie die komplexe Wahrheit und Wirklichkeit des bereits bestehenden, jedoch noch nicht vollendeten Reiches Gottes, einige Christen irrigerweise in den Triumphalismus, andere hingegen in den Quietismus geführt haben. In diesem Artikel gehen wir einem anderen Ansatz nach, im Glauben auf diese komplexe Wahrheit einzugehen.
Teilhabe an Jesu fortdauerndem Wirken im Dienste des Reiches Gottes
Anstatt dem Triumphalismus (jenem Aktivismus, der zum Ziel hat, das Reich Gottes herbeizuführen) anzuhangen oder dem Quietismus (jener Passivität, die für ein Heraushalten steht, alles Gott zu überlassen), sind wir alle dazu aufgerufen, ein hoffnungsfrohes Leben zu führen, das den wahren Zeichen des künftigen Reiches Gottes, Gestalt verleiht. Natürlich kommt diesen Zeichen lediglich eine begrenzte Bedeutung zu – weder schaffen sie das Reich Gottes, noch lassen sie es gegenwärtig und wahr werden. Sie verweisen jedoch über sich selbst hinaus auf das Kommende. Sie bewirken im Hier und Jetzt etwas, wenn sie auch nicht alles zu beeinflussen vermögen. Sie machen eben einen relativen und keinen entscheidenden Unterschied aus. Dies steht im Einklang mit Gottes Ansinnen, was die Kirche in dieser gegenwärtigen, bösen Weltzeit anbelangt. Manche, die eher der triumphalistischen oder quietistischen Denkweise anhangen, werden dem widersprechen und ausführen, es sei kaum oder gar nicht der Rede wert, auf Zeichen zu setzen, welche lediglich auf das künftige Reich Gottes verweisen. Ihrer Ansicht nach, lohnen sie es nicht, wenn sie nicht einen nachhaltigen Wandel hervorzubringen vermögen – wenn sie die Welt nicht verbessern oder zumindest andere zum Glauben an Gott bringen können. Was aber diese Einwände nicht berücksichtigen, ist der Umstand, dass die angedeuteten, vorläufigen und zeitlich begrenzten Zeichen, die Christen im Hier und Jetzt setzen können, nicht losgelöst vom künftigen Reich Gottes zu betrachten sind. Warum nicht? Weil christliches Handeln Teilhabe am beständigen Wirken Jesu, kraft des Heiligen Geistes, bedeutet. Durch den Heiligen Geist vermögen wir uns dem König in seinem Walten im Hier und Jetzt auch in dieser gegenwärtigen, bösen Weltzeit anzuschliessen – einer Zeit, die überwunden werden wird. Der Herr des künftigen Reiches Gottes kann in das gegenwärtige Zeitalter eingreifen und sich die angedeuteten, vorläufigen und zeitlich begrenzten Zeugnisse der Kirche nutzbar machen. Diese bewirken im Hier und Jetzt einen relativen, aber spürbaren Unterschied, wenn sie auch nicht den alles entscheidenden Wandel herbeiführen, der mit der Vollendung des Reiches Gottes einhergeht.
Das Licht des künftigen Reiches Gottes erreicht uns und leuchtet uns auf unserem Weg in dieser dunklen Welt. So wie das Sternenlicht die Dunkelheit der Nacht erhellt, verweisen die in Wort und Tat präsenten Zeichen der Kirche, auf das künftige Reich Gottes im vollen mittäglichen Sonnenlicht. Diese winzigen Lichtpunkte bewirken etwas, wenn auch nur in Andeutung, einstweilig und zeitlich begrenzt. Durch das gnädige Wirken des Allmächtigen werden wir zu Werkzeugen mit unseren Zeichen und Zeugnissen, geführt im Handeln von Gottes Wort und Heiligem Geist. Auf diese Weise können wir Menschen berühren und sie mit Christus in Richtung seines künftigen Reiches begleiten. Gott ist selbst im Hier und Jetzt am Wirken, bevor das Reich seine Vollendung erreicht. Wir sind Botschafter an Christi statt; denn Gott ermahnt durch uns (2. Korinther 5,20). Durch das Predigtwort, wie es vom Heiligen Geist nutzbar gemacht wird, ermöglicht es Gott den Menschen durch ihren Glauben bereits jetzt im Geiste, als Bürger des künftigen Reiches Gottes, diesem Reich teilhaftig zu werden (Römer 1,16). Jeder schlichte Becher Wasser, der in Christi Namen dargereicht wird, bleibt nicht unbelohnt (Matthäus 10,42). Deshalb sollten wir die Zeichen oder Zeugnisse der Gläubigen von Gottes Kirche nicht als flüchtige, reine Symbole oder Gesten abtun, welche auf etwas nicht Gegenwärtiges, noch nicht Reales verweisen. Christus fügt unser Zeichen setzendes Wirken dem Seinen zu und macht sich unser Zeugnis zunutze, um Menschen in eine persönliche Beziehung mit sich zu ziehen. So spüren sie die Gegenwart seiner liebenden Herrschaft und erleben Freude, Frieden und Hoffnung durch seine gerechte, von Liebe erfüllte Regentschaft. Es ist klar diese Zeichen offenbaren nicht die ganze Wahrheit dessen, was die Zukunft für uns bereithält, sondern verweisen lediglich darauf. Sie deuten – sowohl in die Vergangenheit und sind auch in die Zukunft gerichtet – So stellen Christus hin, der in seinem Leben und Wirken auf Erden zum Erlöser und König über die ganze Schöpfung wurde.Diese Zeichen sind nicht blosse Gedanken, Worte, Vorstellungen oder individuelle, ureigene geistliche Erfahrungen. Die christlichen Glaubenszeichen legen über Zeit und Raum, in Fleisch und Blut Zeugnis darüber ab, wer Jesus ist und wie sein künftiges Reich aussehen wird. Sie erfordern Zeit und Geld, Mühe und Geschick, Überlegung und Planung, sowie individuelle und gemeinschaftliche Koordination. Der Allmächtige kann sie sich durch seinen Heiligen Geist zunutze machen und tut dies auch, damit sie den, ihnen zukommenden Zweck, erfüllen: eine Hinführung zu Gott in Christus. Eine derartige Hinführung trägt Früchte in Gestalt eines Wandels, der in Busse (Umkehr bzw. Änderung des Lebens) und Glauben, sowie in einem Leben voller Hoffnung auf das künftige Reich Gottes zum Tragen kommt.
So stellen wir also unsere Zeit, Energie, Mittel, Talente und Freizeit unserem Herrn zur Nutzung zur Verfügung. Die Not der Bedürftigen in unserer gegenwärtigen Welt bekämpfen wir. Wir greifen mit unserem Handeln und unserem tätigen Engagement, das wir mit Gleichgesinnten innerhalb und ausserhalb unserer Kirchgemeinden teilen, helfend ein. Die Ausgestaltung der weltlichen Belange vollzieht sich auch im Zusammenwirken mit jenen, die diesen Gemeinden (noch) nicht angehören. Unser Glaubenszeugnis, das wir im Hinblick So stellen ablegen, kann persönlich und mit Worten erfolgen, aber es sollte auch öffentlich und gemeinschaftlich in die Tat umgesetzt werden. Dabei sollten wir uns alle Mittel, die uns zur Verfügung stehen, zunutze machen. Mit allem, was wir haben, tun und sagen, senden wir dieselbe Botschaft auf allen uns zugänglichen Wegen aus, die verkündet, wer Gott in Christus ist und dass seine Herrschaft für alle Zeit gewiss sein wird. Wir leben im Hier und Jetzt, selbst in der sündigen Welt, in Gemeinschaft mit Christus und in der Hoffnung auf die vollkommene Vollendung seiner Herrschaft. Wir leben erfüllt von der Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde in der künftigen Weltzeit. Wir leben in dieser Zeit im Wissen so, dass diese Welt vergeht – denn dank Jesu Christi Wort und seinem Eingreifen verhält es sich wirklich so. Wir leben in der Gewissheit, das Reich Gottes in der Vollendung rücke heran – denn genau so ist es!
Somit ist unser Zeugnis, das wir als Christen ablegen, so unvollkommen, notdürftig und zeitlich begrenzt es auch sein mag, wahrhaftig in dem Sinne, dass es unsere gegenwärtige Situation und alle unsere Beziehungen beeinflusst, auch wenn es selbst das künftige Reich Gottes, das im Hier und Jetzt noch nicht vollkommen ist, nicht in seiner ganzen Realität widerspiegelt. Es ist wahrhaftig in dem Sinne, dass wir dank der Gnade Gottes gleichsam senfkornartig daran teilhaben, was der Allmächtige durch den Heiligen Geist gegenwärtig tut, um die Menschen auf Jesus Christus und sein künftiges Reich hinzuweisen. Wir können heute nach dem Willen Gottes sowohl im persönlichen, wie auch gesellschaftlichen Rahmen unserer Lebensführung, einiger der Segnungen von Christi Herrschaft und seines Reiches, teilhaftig sein.
Das Wahrhaftige offenbart
Um dies noch ein wenig zu verdeutlichen, sei darauf verwiesen, dass wir mit unserem Handeln der Wirklichkeit der Herrschaft Christi, weder den Boden bereiten, noch sie rechtfertigen. Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist haben das bereits vollbracht. Das künftige Reich Gottes ist wahrhaftig und bereits Wirklichkeit geworden. Seine Wiederkehr ist uns zugesichert. Wir können darauf zählen. Diese Tatsache hängt nicht von uns ab. Es ist dies ein Werk Gottes. Was also vollbringen wirmit unserem Zeugnis, den von uns Gestalt gegebenen Zeichen, wenn damit das Reich Gottes weder verwirklicht wird, noch zunehmend an Realität gewinnt? Die Antwort lautet, unsere Zeichen, die wir setzen, offenbaren bruchstückhaft das kommende Reich Gottes. Unsere gegenwärtige Aufgabe – unser Privileg – besteht darin, in Wort undTat Zeugen der Wirklichkeit von GottesReich zu sein.
Was wird dann das Ende, die Wiederkunft Christi, bewirken? Seine Wiederkunft verleiht dem Reich Gottes nicht letztendliche Realität, so, als berge es bis dahin lediglich das dafür notwendige Potential. Es ist schon heute vollkommene Realität. Jesus Christus ist bereits jetzt Herr, unser Erlöser und König. Er herrscht. Aber das Reich Gottes ist gegenwärtig noch verborgen. Die volle Tragweite seiner Herrschaft kommt in der gegenwärtigen, bösen Weltzeit nicht in ihrer ganzen Fülle zum Tragen und zum Vorschein. Wenn Christus wiederkehrt, wird das Reich Gottes in Vollkommenheit, mit all seinen Auswirkungen offenbar werden. Seine Wiederkunft bzw. sein Wiedererscheinen (seine Parusie) wird mit einer Offenbarung bzw. Enthüllung(einer Apokalypse) der Wahrheit und Wirklichkeit dessen einhergehen, wer er ist und was er vollbracht hat.Zu jener Zeit wird die tatsächliche Wahrheit, wer Christus ist und was er für uns, um unserer Erlösung willen getan hat, allen offenbart werden. Es wird schlussendlich enthüllt werden, was die Person und das Wirken Jesu Christi ausmachte. Die Herrlichkeit all dessen, wird allerorts aufleuchten und damit seine volle Wirkung entfalten. Die Zeit des lediglich andeutungsweisen, vorläufigen und zeitlich begrenzten Bezeugens wird dann zu Ende sein. Das Reich Gottes wird nicht mehr verborgen bleiben. Wir werden in den neuen Himmel und die neue Erde eintreten. Es bedarf keines Zeugnisses mehr; denn wir alle werden der Wirklichkeit selbst ins Auge blicken. Das alles wird bei der Wiederkunft Christi geschehen.
Im Leben eines Christen geht es also nicht darum, dem Potential des Reiches Gottes Wirkung zu verschaffen. Es ist nicht unsere Aufgabe, die zwischen der Realität der sündigen Welt und dem Ideal von Gottes Reich auf Erden bestehende Kluft zu schliessen. Nicht durch unser Bemühen des Allmächtigen beseitigt er die Realität der zerrütteten, sich ihm widersetzenden Schöpfung und ersetzt sie durch das Ideal der neuen Welt. Nein, es ist vielmehr so, dass Jesus der König aller Könige und Herr aller Herren ist und sein Reich – wenngleich noch verborgen – wirklich und wahrhaftig besteht. Die gegenwärtige, böse Weltzeit wird vergehen. Wir leben jetzt gleichsam in einer Irrealität, in einer korrupten, verzerrten, verfälschten Erscheinungsform von Gottes wohlgeratener Schöpfung, die Christus wiedergewonnen hat, indem er sie, siegreich über die Mächte des Bösen, wieder auf die rechte Bahn brachte. So kann sie ihrer ursprünglichen Bestimmung, Gottes schlussendlichen Plan zu verwirklichen, gerecht werden. Dank Christus wird die ganze Schöpfung aus ihrer Knechtschaft befreit und ihr Seufzen hat ein Ende (Römer 8,22). Christus macht alles neu. Das ist die alles entscheidende Realität. Aber diese Realität soll erst noch vollkommen offenbar werden. Wir können schon jetzt, beflügelt vom Heiligen Geist Gottes, andeutungsweise, vorläufig und zeitlich begrenzt, in allen Lebensbereichen, im Hinblick auf jene künftige Realität, Zeugnis ablegen.Und dabei bezeugen wir keine blosse Möglichkeit und schon gar keine, die wir verwirklichen, sondern Christus und sein Königtum, das dereinst inVollkommenheit offenbar werden wird. Dieser Realität gilt unsere berechtigte Hoffnung – eine, in der wir heute, so wie alle Tage leben.
Das bürgerliche und das politische UmfeldWas bedeutet dies nun auf bürgerlicher und politischer Ebene für Christen, die Christi Herrschaft anerkennen und in der Hoffnung auf das kommende Reich Gottes leben? Die biblische Offenbarung stützt nicht den Gedanken einer christlichen „Übernahme“ einer politischen Partei, Nation oder Institution ausserhalb der Gottesdienstgemeinde. Aber sie ruft auch nicht zur Nichteinmischung auf – was im Begriff „Separatismus“ zum Ausdruck kommt. Christus predigte, wir mögen nicht losgelöst von dieser sündigen und verderbten Welt leben (Johannes 17,15). Den Israeliten war aufgetragen, als sie in einem fremden Land im Exil lebten,sich um das Wohl der Städte, die sie bewohnten, zu bemühen (Jeremia 29,7). Daniel diente Gott inmitten einer heidnischen Kultur und brachte sich in sie ein, während er gleichzeitig, dem Gott Israels, glaubenstreu ergeben war. Paulus ermahnt uns, für die Obrigkeit zu beten und menschliche Machtausübung zu respektieren, die das Gute fördert und das Böse verhindert. Er weist uns an, uns auch unter den noch nicht an den wahren Gott Glaubenden unseren guten Leumund zu bewahren. Diese mahnenden Worte implizieren Kontakte sowie Interesse bis hin zurÜbernahme von Verantwortung als Staatsbürger und im institutionellen Rahmen – und nicht vollkommene Abkapselung.
Die biblische Lehre verweist darauf, dass wir Bürger dieser Weltzeit sind. Aber gleichzeitig verkündet sie, dass wir, was noch wichtiger ist, Bürger von Gottes Reich sind. So bekundet Paulus in seinen Briefen: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Epheser 2,191) und spricht: „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel; woher wir auch erwarten den Heiland, den Herrn Jesus Christus“ (Philipper 3,20). Christen haben ein neues Bürgerrecht, das unbestritten Vorrang vor allem Weltlichen hat. Aber es löscht unser altes Bürgerrecht nicht aus. Während seiner Inhaftierung verleugnete Paulus sein römisches Bürgerrecht nicht, sondern machte es sich zunutze, um seine Freilassung zu erwirken. Als Christen sehen wir unser altes Bürgerrecht – der Herrschaft Christi unterworfen – radikal in seiner Bedeutung relativiert. Auch hier stossen wir wieder auf einen komplexen Sachverhalt, der uns zu einer vorschnellen Lösung oder einer Simplifizierung der Problematik hinreissen könnte. Aber Glaube, Hoffnung und Liebe leiten uns, die Komplexität um unseres Bezeugens, des Reiches und der Herrschaft Christi willen, auszuhalten.
Doppeltes Bürgerrecht
Im Anschluss an Karl Barths Zusammenschau der biblischen Lehre und eingedenk der Kirchenlehre im Wandel der Zeit, hat es den Anschein, dass diejenigen, die Christus und seinem Reich in dieser gegenwärtigen Weltzeit zugehörig sind, gleichzeitig zwei sehr unterschiedlichen Gemeinden angehören. Wir haben ein doppeltes Bürgerrecht. Dieser komplexe Sachverhalt scheint unvermeidlich zu sein, weil er mit der Wahrheit einhergeht, dass es zwei Weltzeiten gibt, die einander überlagern, letztlich aber lediglich eine, nämlich die künftige, vorherrschen wird. Jedes unserer Bürgerrechte bringt unabdingbare Pflichten mit sich, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese durchaus im Widerstreit miteinander stehen können. Es ist insbesondere nicht garantiert, dass im Hinblick auf die Verpflichtung gegenüber beiden, nicht ein gewisser Preis zu zahlen ist. So weist Jesus seine Jünger daraufhin: „Ihr aber seht euch vor! Denn sie werden euch den Gerichten überantworten, und in den Synagogen werdet ihr gegeisselt werden, und vor Statthalter und Könige werdet ihr geführt werden um meinetwillen, ihnen zum Zeugnis“ (Markus 13,9). Ähnliche Situationen, die widerspiegeln, was Jesus selbst zustiess, werden in der ganzen Apostelgeschichte nachgezeichnet. Zwischen beiden Bürgerrechten kann es also zu Konflikten kommen, die schwerlich, wenn überhaupt in dieser gegenwärtigen Weltzeit ganz zu lösen sind.
Die doppelten Pflichten mit dem einen wahren Zentrum verknüpfen
Es ist wichtig zu erkennen, wie diese beiden Pflichtenkomplexe angemessen zueinander in Beziehung zu setzen sind. Dabei ist es meist nicht hilfreich, sie als konkurrierend zu betrachten, auch wenn sie bisweilen in Konflikt miteinander geraten. Es ist auch nicht hilfreich, sie hierarchisch geordnet zu sehen, wobei es dann stets einen prioritären Schwerpunkt und dann folgende Gewichtungen gibt, was dazu führt, dass eine zweite oder dritte Handlung oder Entscheidung erst dann zum Zuge kommt, nachdem die Prioritäten die volle Aufmerksamkeit erfahren haben. In diesem Fall läuft es darauf hinaus, dass viele, wenn nicht die meisten, für zweitrangig erklärten Pflichten, letztlich vernachlässigt und stiefmütterlich behandelt werden.
Es ist zudem nicht sinnvoll, eine leicht abgewandelte hierarchisch geordnete Vorgehensweise zu wählen, nach der Zweitrangiges, gleichsam losgelöst von den Prioritäten, erledigt wird. Gemäss dieses Systems achten wir darauf, uns der vorrangigen Pflichten innerhalb der Kirchgemeinde anzunehmen, um dann auch den zweitrangigen innerhalb der Bürgergemeinde gerecht zu werden, so als seien diese relativ unabhängig und folgten eigenen Normen oder Standards, Zwecken oder Zielsetzungen, die bestimmen, wie Verantwortung innerhalb des ausserkirchlichen Bereiches aussieht. Ein solcher Ansatz führt zu einer Untergliederung, die dem Umstand nicht gerecht wird, dass das Reich Gottes schon in diese Weltzeit Einzug gehalten hat und wir somit gleichsam überschneidend zwischen den Zeiten leben. Die Wahrnehmung der prioritären Pflichten kirchlichen Bezeugens wirkt sich stets prägend darauf aus, wie wir an die zweitrangigen, unseres weltlichen Gemeinwesens herangehen. Die beiden Pflichtenkomplexe überschneiden einander, wobei unsere Hoffnung auf das künftige Reich Gottes und unser Bezeugen, all unser Tun – sei dieses nun prioritär - Das Reich Gottes wird nicht mehr verborgen bleibenr er oder sekundärer Natur – prägt. Angesichts der Herrschaft Christi sowie der Einheit der Bestimmung, die Gott der ganzen Schöpfung zuschreibt, und der Vollendung aller Dinge unter Christus als König aller Könige und Herr aller Herren steht des Allmächtigen Bestimmungszuweisung im Mittelpunkt aller Realität – im Mittelpunkt beider Gemeinden, denen wir angehören.2 Alles menschliche Handeln sollte im Dienste dieses zentralen Punktesgeplant, strukturiert und angelegt sein, ja ihm überhaupt gelten. BetrachtenSie den dreieinigen Gott im Fokus einer Reihe von Kreisen stehend, die alle dasselbe Zentrum teilen. Jesus Christus mit seinem künftigen Reich ist dieses Zentrum. Die Kirche, die Christus zugehörig ist, kennt und verehrt ihn allein und steht im Innersten des den Mittelpunkt umgebenden Kreises. Die Kirche kennt diesen Mittelpunkt. Sie weiss um die Charakteristika des künftigen Reiches. Ihre Hoffnung ist auf sicheren Boden gegründet, und sie hat eine rechte Vorstellung vom Wesender Liebe, von der Gerechtigkeit bis hin zu echter Gemeinschaft der Menschen in Christus. Ihr Dienst besteht darin, diesen Mittelpunkt offenbar werden zu lassen und andere aufzurufen, in diesen zentralen Kreis einzutreten, weil er die Quelle ihres Lebens und ihrer Hoffnung darstellt. Alle sollten beiden Gemeinden zugehörig sein! Der Mittelpunkt ihrer Existenz ist zugleich auch Mittelpunkt der kirchlichen Existenz, auch wenn ihre Treuepflicht einzig und vor allem der Bürgergemeinde im weiteren Sinne gilt. Gott in Christus ist, seiner Bestimmung gemäss, Mittelpunkt aller Schöpfung und damit beider Gemeinden. Jesus Christus ist Herr und Erlöser aller Schöpfung – aller Macht und Befehlsgewalt, ob es ihr bewusst ist oder auch nicht.
Die Bürgergemeinde ausserhalb der Kirche kann als umgebender Kreis gedacht werden, der sich im grösseren Abstand zum inneren Kreis der Kirchengemeinde befindet. Weder weiss sie um den Mittelpunkt, noch erkennt sie ihn an, und ihr von Gott erteilter Auftrag besteht auch nicht darin, ihn offenbar werden zu lassen. Ihre Bestimmung besteht nicht darin, die Rolle der Kirchengemeinde einzunehmen oder sie zu ersetzen (wie es im Nazi-Deutschland versucht und von den Führern der deutschen Staatskirche gebilligt wurde). DieKirche soll aber auch nicht gleichsam als grössere Gemeinde ihre Funktionen übernehmen. Aber die, im umgebenden Kreis angesiedelte Bürgergemeinde, teilt mit ihr denselben Mittelpunkt, und ihr Schicksal ist gänzlich an Jesus gebunden, der Herr ist über alle Zeit und allen Raum, über die ganze Geschichte und alle Befehlsgewalt. Die Bürgergemeinde, wie wir sie kennen, ist nicht unabhängig vom gemeinsamen Mittelpunkt, derselben lebendigen Realität, die die Kirche anerkennt und der ihre ultimative Treuepflicht gilt.Es obliegt somit der Kirche, mit den ihr angehörenden, einzelnen Mitgliedern, die in beiden Kreisen leben, den umfassenderen, grösseren Kreis beständig auf die zentrale Realität Jesu und seine künftige Herrschaft hinzuweisen und daran zu erinnern. Und sie wird dieser Aufgabe gerecht, indem sie danach trachtet, innerhalb jener weitergefassten Gemeinde Handlungsschemata, Seinsformen und Möglichkeiten des gemeinsamen Umgangs Gestalt zu verleihen, die – wenngleich auf indirektem Wege – auf jene gemeinsame, zentrale Realität verweisen. Diese Widerspiegelungen der Lebensführung, die im weitergefassten Pflichtenkreis zum Tragen kommen, werden im kirchlichen Gebaren ihren Nachklang finden bzw. ihm entsprechen. Aber sie werden sie lediglich indirekt, undeutlich, wahrscheinlich noch nicht schlüssig und nicht ohne Mehrdeutigkeit zum Ausdruck bringen können. Das ist jedoch zu erwarten. Die weitergefasste Gemeinde ist nicht die Kirche und soll diese auch gar nicht sein. Aber sie soll beständig von ihr profitieren, da deren Mitglieder danach trachten, auch ihr gegenüber, ebenso wie gegenüber dem Herrn, verantwortlich zu sein.
Vergleichbare Zeichen der Bewahrung und des Schutzes
Dass wir uns in dieser gegenwärtigen, bösen Weltzeit bewegen, wird insbesondere jenen in diesem weitergefassten Bereich bürgerlichen Seins deutlich, die ihre Hoffnung auf die künftige Weltzeit setzen und das lebendige Zentrum kennen und anbeten. Die theologischen Grundfesten und geistlichen Quellen der offenen Gemeinschaft mit Gott, werden, dank Jesu Christi durch jene bürgerlichen Aktivitäten, die im Dienste der umgebenden Gemeinde vollzogen werden, weder offenbar noch bereitwillig nutzbar gemacht. Aber die Praktiken, Massstäbe, Prinzipien, Regeln, Gesetze, Seins und Umgangsformen in jenem weitergefassten Bereich können mehr oder weniger mit dem Leben, das Gott für uns in Christus bereithält, in Einklang gebracht bzw. gleichsam mit ihm gepaart werden. Der christliche Einfluss wird darauf ausgelegt sein, den weitergefassten Verantwortungsbereich auf kluge Weise einzubinden und so in jedem sich bietenden Augenblick so weit wie möglich die Organisationsmuster, Verhaltensgrundsätze und - Praktiken umzusetzen suchen, die am besten mit Gottes Zielsetzungen und Wegen vereinbar sind – Wegen, die eines Tages der ganzen Welt offenbar werden. Wir können sagen, dass die Kirche, der weitergefassten Gemeinde, als eine Art Gewissen dient. Sie trachtet danach, die sie umgebende Gemeinde davon abzuhalten, noch weiter von Gottes, der Menschheit zugedachten Bestimmung und seinem Plan, abzufallen. Und sie kommt dem nicht nur durch ihre Verkündigung nach, sondern durch persönliches Mitwirken, das zweifelsohne nicht ohne einen Preis dafür zu bezahlen, zu haben ist. Mit Wort und Tat dient sie gleichsam als Schutz undBewahrer, auch wenn ihre Weisheit, ihre Warnungen und ihr Engagement gelegentlich nicht beachtet oder zurückgewiesen werden.
Indirekte Zeichender Hoffnung einfliessen lassen
Die Mitglieder der Kirche können ihr kulturelles Umfeld – gleichsam als eine Art Triebmittel oder als leuchtendes Beispiel – auch mit materiellen Sozialleistungen, sowie durch eingebrachte Organisations- und Produktionsstrukturen bereichern, die sich aus dem Evangelium Christi speisen. Aber ein derartiges Zeugnis wird nur als indirekter Verweis dienen können, der das direkte, geistliche Wirken und die Botschaft der Kirche, Gott in Christus, sowie die Gegenwart und das Kommen seines Reiches betreffend, lediglich unterstützend begleiten kann. Diese gestalterisch eingreifenden Bemühungen, die als indirekte Zeichen dienen, sollten das Leben der Kirche bzw. ihre zentrale Botschaft und ihr Wirken nicht ersetzen. Jesus, Gott oder auch die Heilige Schrift werden wahrscheinlich garnicht erwähnt werden. Die diese Aktivitäten speisende Quelle wird kaum je (wenn überhaupt) genannt werden, obwohl dem Handeln bzw. dem Vollbrachten die Aura Christi anhaftet. Derartigen, indirekten Zeugnissen sind Grenzen gesetzt. Sie werden wahrscheinlich schon vieldeutiger sein, verglichen mit den direkten Bezeugungen und dem Wirken der Kirche. Die Ergebnisse werden wohl unstimmiger ausfallen als die des grundlegenden, kirchlichen Wortes und Zeugnisses. Manchmal werden die von Christen vorgebrachten, das Gemeinwohl betreffenden Vorschläge vonseiten der öffentlichen bzw. privaten Machtorgane, Einflusssphären und Instanzen nicht akzeptiert oder sie kommen nur deutlich beschnitten zum Tragen. Dann wiederum mögen sie so umgesetzt werden, dass sie im Hinblick auf das Reich Gottes weitreichende Auswirkungen zeitigen. Das geistliche Wirken desvon Chuck Colson ins Leben gerufenen Vereins zur Förderung der Gefangenenhilfe (Prison Fellowship), der sich in Staats- oder Bundesgefängnissen engagiert, ist dafür ein gutes Beispiel. Es ist jedoch nicht abschätzbar, wie viel Einfluss geltend gemacht werden kann. Einige Erfolge können von enttäuschend kurzer Dauer sein. Es wird auch Misserfolge geben. Aber diejenigen, denen diese indirekten Bezeugungen zuteilwerden, die – wenn auch entfernt – Gottes Willen und sein Wesen widerspiegeln, werden auf diesem Wege auf den Kern dessen verwiesen, was die Kirche zu bieten hat. Die Zeugnisse dienen somit als eine Art vorevangelikale Zurüstung.
Die vorrangige Pflicht der umgebenden Bürgergemeinde besteht darin, für eine gute und gerechte Ordnung zu sorgen, so dass die Kirche in jedem Fall ihrer essentiellen, geistlichen Aufgabe als Glaubensgemeinschaft gerecht werden kann und ihre Mitglieder, ihr indirektes Bezeugen innerhalb der weitergefassten Gemeinde, ausleben können. Es wird dabei weitgehend auf die Sicherstellung der Rechtsstaatlichkeit, deröffentlichen Gerechtigkeit, hinauslaufen. Ziel wird das Gemeinwohl sein. Es wird somit Sorge dafür getragen, die Schwachen nicht von den Starken zuübervorteilen.
Es scheint, dies sei Paulus vorgeschwebt, als er, wie im Römerbrief 13 zu lesen ist, die rechten Pflichten gegenüber der weltlichen Obrigkeit beschrieb. Es mag auch widerspiegeln, was Jesus meinte, als er sagte: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Matthäus 22,21), und was Petrus in seinem Brief ausdrücken wollte: „Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen, es sei dem König als dem Obersten oder den Statthaltern als denen,die von ihm gesandt sind zur Bestrafung der Übeltäter und zum Lob derer, die Gutes tun“ (1. Petrus 2,13-14).
von Gary Deddo