In der letzten Folge nahmen wir in den Blick, inwieweit die Verheissung des bevorstehenden Reiches Gottes in seiner ganzen Fülle für uns Gläubigen als Quelle grosser Hoffnung zu dienen vermag. In diesem Artikel wollen wir vertiefend darauf eingehen, wie wir zu jener Hoffnung stehen.
Wie sollen wir als Gläubige unser Verhältnis zu einem Reich verstehen, von dem es in der Bibel heisst, es sei jetzt bereits gegenwärtig, aber sein Kommen stünde noch aus? Ich meine, wir können es in Anlehnung an Karl Barth, T.F. Torrance und George Ladd (auch andere könnten an dieser Stelle genannt werden) folgendermassen beschreiben: Wir sind dazu berufen, jetzt an den Segnungen des kommenden Reiches Christi Anteil zu haben und bezeugen dieses in vorläufiger und zeitlich beschränkter Art und Weise. So wie wir gegenwärtig das Reich Gottes wahrnehmen und in unserem Handeln widerspiegeln, das im Dienst von Jesu fortlaufendem Wirken kraft seines Heiligen Geistes steht, legen wir beredt Zeugnis darüber ab, wie das künftige aussehen mag. Ein Zeuge legt nicht aus Selbstzweck Zeugnis ab, sondern um etwas zu bezeugen, von dem er persönlich Kenntnis gewonnen hat. Gleichermassen verweist ein Zeichen nicht auf sich selbst, sondern auf etwas anderes und weitaus Bedeutenderes. Als Christen legen wir Zeugnis darüber ab, worauf verwiesen wird – das künftige Reich Gottes. Somit ist unser Bezeugen wichtig, unterliegt jedoch gewissen Einschränkungen.Erstens dient unser Bezeugen nur teilweise als Indikator des künftigen Reiches. Es birgt nicht seine ganze Wahrheit und Wirklichkeit, und dies ist auch gar nicht möglich. Unser Handeln kann nicht vollumfänglich Christi Reich, das jetzt noch weitgehend verborgen bleibt, in seiner ganzen Vollkommenheit offenbaren. Unsere Worte und unser Handeln können sogar einige Aspekte des Reiches verschleiern, andere wiederum besonders hervorheben. Unsere vielfältigen Bezeugungsakte können im ungünstigsten Fall scheinbar völlig unstimmig sein, ja einander vielleicht sogar widersprechen. Eine vollkommene Lösung eines jeden Problems mögen wir wohl nicht herbeiführen können, wie aufrichtig, engagiert oder gekonnt wir uns auch darum bemühen. In einigen Fällen kann eine jede sich bietende Option sich zwangsläufig ebenso vorteilhaft wie nachteilig auswirken. In einer sündigen Welt ist eine vollkommene Lösung auch für die Kirche nicht immer möglich. Und so wird das von ihr abgelegte Zeugnis in dieser gegenwärtigen Weltzeit auch nur unvollständig sein.
Zweitens ist uns mit unserem Zeugnis lediglich eine eingeschränkte Sicht auf die Zukunft möglich, die uns nur einen flüchtigen Blick auf das künftige Reich Gottes erhaschen lässt. In seiner ganzen Wirklichkeit aber vermag sie es uns gegenwärtig nicht zu erfassen. Wir sehen „nur ein unklares Bild“ (1. Korinther 13,12;Gute Nachricht Bibel). So ist es zu verstehen, wenn wir von einer „vorläufigen“ Sicht sprechen.Drittens ist unser Bezeugen zeitgebunden. Werke kommen und gehen. Einiges, was im Namen Christi vollbracht wird, mag länger als anderes Bestand haben. Einiges, was wir mit unserem Handeln bezeugen, mag nur flüchtig und nicht von Dauer sein. Aber als Zeichen verstanden, muss unser Bezeugen auch nicht ein für alle Mal Gültigkeit besitzen, um auf das verweisen zu können, was wirklich von Dauer ist, die ewige Herrschaft Gottes durch Christus im Heiligen Geist.Somit ist unser Bezeugen weder allgemeingültig noch vollkommen, erschöpfend oder unumstösslich, obwohl es von grossem, ja unabdingbarem Wert ist, da es diesen aus der Beziehung zur künftigen Realität des Reiches Gottes gewinnt.
Zwei falsche Lösungsansätze hinsichtlich des komplexen Themas des bereits bestehenden, aber noch nicht vollendeten Reiches Gottes. Einige mögen fragen: „Was ist dann unsere gegenwärtig gewonnene Erfahrung und unser Bezeugen wert, wenn sie nicht auf das Reich selbst abzielen? Warum sich also damit herumplagen? Welchen Nutzen wird es haben? Wenn wir nicht das Ideal hervorzubringen vermögen, warum sollten wir dann in ein solches Projekt so grosse Mühen investieren oder dafür so viele Mittel aufwenden?“ Andere mögen vielleicht antworten: „Wir wären nicht von Gott berufen, wenn es um weniger ginge,als um das Erreichen eines Ideals und die Vollendung von etwas Vollkommenem. Mit seiner Hilfe können wir beständig auf die Verwirklichung von Gottes Reich auf Erden hinarbeiten.“ Reaktionen im Hinblick auf die komplexe Thematik des „bereits bestehenden, aber noch nicht vollendeten“ Reiches haben im Verlauf der Kirchengeschichte zumeist so unterschiedliche Antworten, wie die oben zitierten, hervorgebracht. Und dies trotz fortlaufender Warnungen hinsichtlich dieser beiden Denkansätze, die sie als schwere Fehler ausweisen. Offiziell ist diesbezüglich von Triumphalismus und Quietismus die Rede.
Manche, denen es nicht behagt, lediglich auf die Wahrnehmung und Verwirklichung von Zeichen reduziert zu sein, beharren darauf, das Reich Gottes – wenngleich mit Gottes Hilfe – selbst aufbauen zu können. So lassen sie sich beispielsweise nicht davon abbringen, wir könnten tatsächlich „Weltveränderer“ sein. Dieses ginge, wenn nur genügend Menschen sich der Sache Christi mit ganzem Herzen verschreiben würden und bereit wären, den dafür notwendigen Preis zu zahlen. Wenn also nur ausreichend viele Menschen sich unermüdlich und aufrichtig genug bemühten und darüber hinaus noch um die rechten Verfahren und Methoden wüssten, würde unsere Welt mehr und mehr in jenes vollkommene Reich Gottes verwandelt werden. Christus werde dann, wenn das Reich allmählich vermittels unserer Bemühungen seiner Vollendung entgegenginge, wiederkehren. Dies alles sei natürlich nur mit Gottes Hilfe zu erreichen.
Obgleich es nicht offen ausgesprochen wird, geht diese Sichtweise vom Reich Gottes davon aus, dass das von uns Verwirklichte auf das Potential zurückzuführen ist, das Jesus Christus durch sein Wirken auf Erden und seine Lehre möglich gemacht, aber nicht tatsächlich umgesetzt hat. Christus habe inder Gestalt den Sieg davongetragen, dass wir jetzt das von ihm ermöglichte Potential ausschöpfen bzw. verwirklichen können.
Die Antwort des Triumphalisten neigt dazu, insbesondere jene Bemühungen hervorzuheben, die im Bereich sozialer Gerechtigkeit und öffentlicher Moral wie auch privater Beziehungen und sittlichen Verhaltens Veränderungen zu bringen verheissen. Die Anwerbung von Christen für derartige Programme erfolgt meist unter Berufung darauf, dass Gott gewissermassen auf uns angewiesen ist. Er suche eben „Helden“. Er habe uns das Ideal, den Vorentwurf, ja den Plan seines Reiches vorgegeben, und es sei nun Sache der Kirche, diesin die Tat umzusetzen. Uns ist demnach das Potential gegeben, das bereits in Vollkommenheit Vorgegebene zu realisieren. Dieses gelinge, wenn wir nur überzeugt sind, dass dies so ist, und wirklich und wahrhaftig absolut dahinter stehen, Gott zu zeigen, wie aufrichtig dankbar wir ihm für alles sind, was er getan hat, auf dass wir das Ideal verwirklichen können. Wir vermögen dementsprechend, die Lücke zwischen dem „Realen“ und Gottes Ideal zu schliessen – also packen wir’s doch geradewegs an!
Das Werben für das Programm des Triumphalisten wird häufig durch folgende Kritik zusätzlich angefeuert: Der Grund sei darin zu finden, dass NichtGläubige sich dem Programm nicht anschlössen und eben nicht Christen würden bzw. die Nachfolge Christi anträten. Und weiter, dass die Kirche nicht annähernd genug täte, das Reich Wirklichkeit werden zu lassen und damit Gottes Leben in Vollkommenheit im Hier und Jetzt Raum zu geben. Die Argumentation geht noch weiter: Es gebe so viele nominelle Christen (also lediglich dem Namen nach) und wahrhaftige Heuchler innerhalb der Kirche, die eben nicht, wie Jesus es lehrte, der Liebe anhangen und nach Gerechtigkeit streben, so dass Ungläubige ihren Beitritt verweigern – und dies, kann man nur sagen, mit vollem Recht! Es wird des Weiteren behauptet, die Schuldigen dafür, dass NichtGläubige keine Christen würden, seien im Wesentlichen unter den halbherzigen, glaubensschwachen oder heuchlerischen Christen anzutreffen. Dieses Problem sei daher nur zu lösen, indem alle Christen von der Begeisterung angesteckt und so wahrhaftig überzeugte und kompromisslose Christen werden, die das Reich Gottes bereits im Hier und Jetzt in Vollkommenheit umzusetzen wissen. Nur dann, wenn Christen in weitaus stärkerem Masse als bisher, Gottes Willen und den von ihm verfochtenen Lebenswandel beispielhaft in die Tat umsetzen, wird das Evangelium Christi andere überzeugen, weil sie auf diesem Wege die Herrlichkeit Jesu Christi erkennen und an sie glauben. Zur Bestärkung dieses Arguments greift man häufig, hier unzutreffend, auf Jesu Worte zurück: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Johannes 13,35). Daraus wird dann der Schluss gezogen, dass andere nicht zum Glauben kommen, ja es gar nicht vermögen, wenn wir nicht im ausreichenden Masse der Liebe anhangen. Ihr Weg zum Glauben sei abhängig davon, inwieweit wir wie Christus selbst in Liebe miteinander umgehen würden.
Diese Worte Jesu (Johannes 13,35) besagen nicht, dass andere dadurch zum Glauben kommen, sondern lediglich, dass man diese in der Nachfolge Jesu Stehenden als die Seinen erkennen wird, da sie sich, wie er, in Liebe üben. Er weist damit darauf hin, dass unser Miteinander in Liebe dazu dienen kann, andere auf Christus zu verweisen. Das ist wunderbar! Wer wollte sich dem nicht anschliessen? Aus seinen Worten geht jedoch nicht hervor, dass der Glaube / das Heil anderer, von dem Ausmass der Liebe seiner Jünger untereinander, abhängt. Unter Berufung auf diesenVers ist es logisch falsch, daraus im Umkehrschluss zu folgern, wenn es die in der Nachfolge Christi Stehenden an Liebe ermangelten, andere sie nicht als solche zu erkennen vermögen und infolgedessen nicht an ihn glauben. Wenn dem so wäre,würde Gott in keiner Weise getreulicher sein als wir. Die Worte „sind wir untreu, so bleibt er doch treu“ (2. Timotheus 2,13) träfen dann nicht zu. All jene, die zum Glauben kamen, haben erkannt, dass die Kirche als Ganze, wie auch ihre einzelnen Gemeindeglieder, in Widersprüche verstrickt und unvollkommen sind. Sie vertrauten auf ihren Herrn, weil sie zugleich den Unterschied zwischen dem einen, dem Lobpreis zuteilwird, und jenen, die ihn lobpreisen, erkannten. Hinterfragen Sie einfach Ihren eigenen Glauben und schauen Sie, ob es sich nicht so verhält. Gott ist grösser als unser Bezeugen seiner selbst. Er ist getreulicher als wir. Natürlich ist dies keine Ausrede dafür, treulose Zeugen der vollkommenen Liebe Christi zu sein.
Am anderen Ende des Spektrums, wo wir die Antwort des Quietismus vorfinden, haben einige die vielschichtige Problematik des bereits bestehenden, aber noch nicht vollendeten Reiches Gottes angesprochen, indem sie geltend machen, gegenwärtig könne man nicht viel tun. Für sie liegt die Herrlichkeit allein in der Zukunft. Christus habe den Sieg im Laufe seines Wirkens auf Erden davongetragen, und er allein werde ihn dereinst zu gegebener Zeitin seiner ganzen Vollkommenheit zur Entfaltung bringen. Wir warten gegenwärtig einfach die Wiederkehr Christi ab, auf dass er uns – vielleicht nach einigen Jahren der Erdenherrschaft – gegen Himmel trage. Während Christen im Hier und Jetzt bereits einige Segensgaben, wie die Vergebung der Sünden, zuteil würden, sei die Schöpfung einschliesslich der Natur vor allem aber alle sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen der Verderbnis und dem Bösen verfallen. All das könne und werde nicht errettet werden. Diesem allem sei, im Hinblick auf die Ewigkeit, keine Bestimmung zum Guten zugedacht. Es könne nur der Verdammnis durch den Zorn Gottes überantwortet und seinem absoluten Ende zugeführt werden. Die Menschen müssten grösstenteils dieser sündigen Welt enthoben werden, auf dass sie errettet werden können.Gelegentlich wird diesem quietistischen Ansatz entsprechend eine Form des Separatismus gelehrt. Demgemäss müssen wir dem weltlichen Strebendes Diesseits entsagen und uns von ihm fern halten. Anderen Quietisten zufolge, lässt die Hoffnungsund Hilflosigkeit dieser Welt, den Schluss zu, dass man sich an ihr auf vielfältige Weise schadlos halten könne, da es schliesslich ohne Belang sei, weil letztlich ohnehin alles dem Gericht überantwortet werde. Für wiederum andere bedeutet ein passiver, quietistischer Ansatz, dass Christen im besten Falle individuell für sich oder innerhalb der Gemeinschaft ein Beispiel, losgelöst von der übrigen Welt, abgeben sollten. Die Betonung liegt hier oft auf persönlicher, familiärer und kirchlicher Moral. Direkte Bestrebungen aber, ausserhalb der christlichen Gemeinschaft Einfluss zu nehmen bzw. einen Wandel hervorzubringen, werden grösstenteils als glaubensabträglich betrachtet, manchmal gar verurteilt. Es wird die Ansicht vertreten, dass die direkte Indienstnahme der dem Unglauben verfallenen, umgebenden Kultur nur zu Kompromissen und letztlich zum Scheitern führen werde. Somit sind persönliche Hingabe und moralische Reinheit die beherrschenden Themen.
Oft wird dieser Lesart des Glaubens zufolge, das Ende der Geschichte, gleichsam als Ende der Schöpfung betrachtet. Sie werde zerstört. Das Sein von Zeit und Raum habe dann keinen Bestand mehr. Einige, nämlich die Gläubigen, würden dieses Auflösungsprozesses enthoben sein und der vollkommenen, reinen, geistlichen Realität eines ewigen, himmlischen Daseins mit Gott zugeführt werden.Diese beiden Extreme stehen stellvertretend für Tendenzen. In der Kirche machen viele Varianten und Zwischenpositionen Schule. Die meisten aber bewegen sich irgendwo innerhalb dieses Spektrums und neigen entweder der einen oder der anderen Seite zu. Dabei tendiert die triumphalistische Position eher dazu, Menschen mit einer optimistischen und „idealistischen“ Persönlichkeitsstruktur anzusprechen, während die Quietisten ihren grössten Zuspruch eher unter den Pessimisten oder „Realisten“ finden. Aber noch einmal, es handelt sich hier um grobe Verallgemeinerungen, die keine spezielle Gruppierung ansprechen, die dem einen bzw. dem anderen Extrem voll und ganz entspräche. Es sind dies Tendenzen, die in der Tat auf die eine oder andere Weise versuchen, die komplexe Problematik der bereits bestehenden, aber noch nicht voll ersichtlichen Wahrheit und Realität des Reiches Gottes zu vereinfachen.
Es gibt jedoch eine mit der biblischen wie auch theologischen Lehrmeinung kompatiblere Alternativposition, die nicht allein die beiden Extreme umgeht, sondern allein schon den Gedanken einer solchen Polarisierung für falsch erachtet, da dieser der biblischen Offenbarung in ihrer ganzen Tragweite nicht gerecht wird. Die triumphalistische und die quietistische Alternative sowie die zwischen ihren jeweiligen Meinungsvertretern geführten Diskussionen gehen davon aus, dass die komplexe Wahrheit des Reiches Gottes uns abverlangt, in der strittigen Frage, Position zu beziehen. Entweder Gott vollbringt alles allein oder aber uns obliegt die Realisierung. Diese beiden Sichtweisen erwecken den Eindruck, dass wir uns entweder als Aktivisten zu erkennen geben oder eine relativ passive Rolle einnehmen müssen, wenn wir uns mit unserer Haltung nicht irgendwo dazwischen ansiedeln mögen. Die biblische Position hinsichtlich des bereits bestehenden, aber noch nicht in Vollendung realisierten Reiches Gottes ist komplex. Aber es gibt keinenGrund für etwaige Spannungen. Es geht nicht darum, einen Ausgleich herzustellen oder eine wie auch immer geartete, gemässigte Zwischenposition zwischen den beiden Extremen auszumachen. Es besteht kein Spannungsverhältnis zwischen der gegenwärtigen und der künftigen Zeit. Wir sind vielmehr dazu aufgerufen, in diesem bereits erfüllten, aber noch nicht vollkommenen Hier und Jetzt zu leben. Wir leben gegenwärtig in einem Stadium der Hoffnung, das – wie wir im zweiten Teil dieser Artikelserie gesehen haben – bildlich wohl recht gut mit dem Begriff Erbe wiedergegeben werden kann. Wir leben gegenwärtig in der sicheren Gewissheit, im Besitz unseres Erbes zu sein, wenngleich uns der Zugriff auf dessen Früchte, deren wir dereinst in vollem Umfang teilhaftig werden, noch verwehrt bleibt.Im nächsten Artikel im Rahmen dieser Serie werden wir weiter darauf eingehen, was es bedeutet, im Hier und Jetzt in der Hoffnung auf die Vollendung des künftigen Reiches Gottes zu leben.
von Dr. Gary Deddo