„Gott mit uns“ lautete der heute mehr als befremdlich anmutende Slogan, den viele deutsche Soldaten, die vor hundert Jahren in den Krieg zogen, in ihr Koppelschloss eingraviert trugen. Diese kleine Reminiszenz aus dem historischen Archiv lässt uns besser verstehen, wie verheerend sich der Erste Weltkrieg von 1914-1918 auf die religiöse Überzeugung und den christlichen Glauben auswirken sollte. Pastoren und Priester stachelten ihre jungen Gemeindemitglieder mit banalen Zusicherungen an, die verhiessen, Gott sei auf der Seite der jeweiligen Nation, der sie angehörten. Die Gegenreaktion auf die kirchliche Teilhabe am Krieg, der fast zehn Millionen Menschen, darunter zwei Millionen Deutschen, das Leben forderte, wirkt noch heute nach.
Der römisch-katholische Theologe Gerhard Lohfink zeichnete die Nachwirkungen präzise nach: „Dass 1914 Christen voller Enthusiasmus gegen Christen in den Krieg zogen, Getaufte gegen Getaufte, wurde in keinster Weise als Zerstörungswerk an der Kirche angesehen...“. Der Bischof von London hatte seine Gemeindemitglieder dazu gedrängt, „für Gott und das Vaterland“ zu kämpfen, als ob Gott unserer Hilfe bedürfte. In der neutralen Schweiz war der junge Pastor Karl Barth angesichts dessen, dass seine Seminaristen bereitwillig in den Schlachtruf „An die Waffen!“ einfielen, bis ins Mark erschüttert. In der angesehenen Zeitschrift „Die Christliche Welt“ protestierte er: „Es ist für mich am betrüblichsten, mit ansehen zu müssen, wie Kriegslüsternheit und christlicher Glaube im hoffnungslosen Durcheinander miteinander verquickt werden.“
Historiker haben die direkten und indirekten Ursachen des Konflikts offengelegt, der in einem kleinen Winkel des Balkans seinen Ausgangspunkt fand und dann die Grossmächte Europas hineinzog. Der französische Journalist Raymond Aron fasste dies in seinem Werk „The Century of Total War“ [dt.: Das Jahrhundert des totalen Krieges] auf S. 16 zusammen: „Bei den wachsenden Spannungen ging es um drei Hauptkonfliktpunkte: die Rivalität zwischen Österreich und Russland auf dem Balkan, den deutsch-französischen Marokkokonflikt sowie das Wettrüsten – auf See zwischen Grossbritannien und Deutschland und an Land unter allen Mächten. Die beiden letztgenannten Kriegsgründe hatten der Situation den Boden bereitet; der erstgenannte lieferte den entfachenden Funken.
Kulturhistoriker gehen den Ursachen noch weiter auf den Grund. Sie erforschen scheinbar schwer fassbare Phänomene wie den Nationalstolz und tief im Inneren schlummernde Ängste, die beide meist wechselseitig wirken. Der Düsseldorfer Historiker Wolfgang J. Mommsen brachte diesen Druck auf den Punkt: „Es war ein Kampf zwischen den unterschiedlichen politischen und intellektuellen Systemen, der hierfür die Grundlage bildete“ (Imperial Germany 1867-1918 [dt.: Deutsches Kaiserreich 1867-1918], S. 209). Sicher war es nicht ein Staat allein, der 1914 in nationalem Egoismus und Patriotismus schwelgte. Die Briten nahmen mit entspannter Gelassenheit zur Kenntnis, dass ihre königliche Marine in einem Weltreich, in dem die Sonne nie untergeht, über ein Viertel der ganzen Erde gebot. Die Franzosen hatten Paris zu einer Stadt gemacht, in der der Eiffelturm Zeugnis über die kreative Technologienutzung ablegte.
„Glücklich wie Gott in Frankreich“ hiess es in einem deutschen Spruch aus jener Zeit. Mit ihrer besonderen „Kultur“ und einem halben Jahrhundert rigoros verwirklichter Leistungen sahen sich die Deutschen von einem Überlegenheitsgefühl getragen, wie die Historikerin Barbara Tachman es auf einen Nenner brachte:
„Die Deutschen wussten, dass sie die stärkste Militärmacht der Erde stellten, zudem die tüchtigsten Kaufleute und die umtriebigsten, auf alle Kontinente vordringenden Banker, die sowohl die Türken bei der Finanzierung einer von Berlin nach Bagdad führenden Bahnstrecke unterstützten als auch den lateinamerikanischen Handel an sich banden; sie wussten, dass sie eine Herausforderung für die britische Seemacht darstellten, und vermochten auf intellektuellem Gebiet, systematisch jeden Wissenszweig dem Wissenschaftsprinzip folgend zu strukturieren. Ihnen fiel verdientermassen eine weltbeherrschende Rolle zu (The Proud Tower [dt.: Der stolze Turm], S. 331).
Es fällt auf, wie oft der Begriff „Stolz“ in Analysen der zivilisierten Welt vor 1914 auftaucht, und es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass nicht jede Bibelfassung das Sprichwörtliche: „Hochmut kommt vor dem Fall“ wiedergibt, sondern es beispielsweise in der Lutherbibel von 1984 im korrekten Wortlaut zudem heisst: „Wer zugrunde gehen soll, der wird zuvor stolz“ (Sprüche 16,18).
Der Vernichtung anheimfallen sollten dann nicht allein Häuser, Bauernhöfe sowie die gesamte männliche Bevölkerung so mancher Kleinstadt. Die bei weitem grössere Wunde, die der europäischen Kultur zugefügt wurde, sollte der „Tod Gottes“ werden, wie er von manchen tituliert wurde. Auch wenn die Zahl der Kirchgänger in Deutschland in den Jahrzehnten vor 1914 im Sinken begriffen war und die Praktizierung des christlichen Glaubens in ganz Westeuropa vornehmlich in Gestalt von „Lippenbekenntnissen“ geübt wurde, so schwand der Glaube an einen gütigen Gott bei vielen Menschen durch das grauenvolle Blutvergiessen in den Schützengräben, das sich in bis dato nie gekanntem Gemetzel niederschlug, dahin.
Wie der Schriftsteller Tyler Carrington in Bezug auf Mitteleuropa feststellte, war die Kirche als Institution „nach den 1920er Jahren stets auf dem Rückzug“, und was noch schlimmer ist, „heute ist die Zahl der Gottesdienstbesucher auf einem nie dagewesenen Tiefstand“. Nun ist es nicht so gewesen, dass vor 1914 vom Goldenen Glaubenszeitalter die Rede sein konnte. Eine Reihe von tiefgreifenden Eingriffen aus dem religiösen Lager der Verfechter der historischkritischen Methode hatte zu einem stetigen Erosionsprozess geführt, was den Glauben an eine göttliche Offenbarung betrifft. Schon zwischen 1835 und 1836 hatte David Friedrich Strauss‘ Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet die traditionsgemäss postulierte Göttlichkeit Christi in Frage gestellt. Selbst der uneigennützige Albert Schweitzer hatte in seinem 1906 erschienenen Werk Geschichte der Leben-Jesu-Forschung Jesus als lauteren apokalyptischen Prediger dargestellt, der aber letztendlich eher ein guter Mensch als Gott-Mensch gewesen sei. Dieses Gedankengut erreichte “die kritische Masse“ jedoch erst mit der Desillusionierung und dem Gefühl des Verratenwordenseins, deren sich Millionen Deutsche und andere Europäer nach 1918 gewahr wurden. Auf dem Reissbrett gewannen unkonventionelle Denkmodelle Kontur wie die Psychologie Freuds, Einsteins Relativitätstheorie, der Marxismus-Leninismus und vor allem Friedrich Nietzsches falsch verstandene Aussage „Gott ist tot, [...] und wir haben ihn getötet“. Vielen Überlebenden des Ersten Weltkriegs schien es, als seien ihre Grundfeste unwiederbringlich erschüttert. Die 1920er leiteten in Amerika das Jazz-Zeitalter ein, für den Durchschnittsdeutschen begann jedoch eine äusserst bittere Zeit, in der er unter der erlittenen Niederlage und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch litt. 1922 kostete ein Laib Brot 163 Mark, ein Preis, der bis 1923 in uferlosen 200.000.000 Mark gipfelte.
Auch wenn die eher linksgerichtete Weimarer Republik (1919-1933) sich um eine gewisse Ordnung bemühte, sahen sich Millionen vom nihilistischen Gesicht des Krieges in den Bann gerissen, das Erich Maria Remarque in seinem Werk Im Westen nichts Neues nachzeichnete. Soldaten auf Heimaturlaub seien angesichts des Auseinanderklaffens dessen, was fernab der Front über den Krieg verbreitet wurde, und der Realität, wie sie sich ihnen in Gestalt von Ratten, Läusen, Granattrichtern, Kannibalismus und der Erschiessung von Kriegsgefangenen gezeigt hatte, am Boden zerstört gewesen. “Es wurden Gerüchte verbreitet, unsere Angriffe seien von musikalischen Klängen begleitet und der Krieg sei für uns ein langer Wahn aus Lied und Sieg [...] Wir allein wussten um die Wahrheit hinsichtlich des Krieges; denn sie stand uns vor Augen“ (zitiert aus Ferguson, The War of the World [dt.: Der Weltkrieg], S. 119).
Im Endeffekt mussten die Deutschen trotz ihrer Kapitulation, zu den von US-Präsident Woodrow Wilson auferlegten Bedingungen, eine Besatzungsarmee in Kauf nehmen – belastet mit Reparationszahlungen in Höhe von 56 Milliarden Dollar, unter Verlust riesiger Territorien in Osteuropa (und nicht zuletzt der meisten seiner Kolonien) und bedroht von Strassenkämpfen kommunistischer Gruppierungen. Präsident Wilsons Kommentar zum Friedensvertrag, den die Deutschen 1919 unterzeichnen mussten, lautete, er würde ihn, wenn er Deutscher wäre, nicht unterschreiben. Der britische Staatsmann Winston Churchill prophezeite: „Es ist dies kein Frieden, sondern ein 20 Jahre währender Waffenstillstand“. Wie recht er doch hatte!
Der Glaube musste in diesen Nachkriegsjahren enorme Rückschläge hinnehmen. Pastor Martin Niemöller (1892-1984), Träger des Eisernen Kreuzes und später von den Nazis gefangen genommen, sah in den 1920er Jahren „Jahre der Finsternis“. Zu dieser Zeit gehörten die meisten deutschen Protestanten 28 Gemeinden der lutherischen bzw. reformierten Kirche an, einige wenige den Baptisten bzw. den Methodisten. Martin Luther war ein starker Verfechter des Gehorsams gegenüber der politischen Obrigkeit gewesen, beinahe um jeden Preis. Bis zur Bildung des Nationalstaats in der Bismarck-Ära in den 1860er Jahren hatten die Fürsten und Monarchen auf deutschem Boden Kontrolle über die Kirchen ausgeübt. Damit waren optimale Voraussetzungen für einen fatalen Nominalismus in der breiten Öffentlichkeit geschaffen. Während weltbekannte Theologen schwer verständliche Gegenstandsbereiche der Theologie erörterten, folgte der Gottesdienst in Deutschland weitgehend der liturgischen Routine, und kirchlicher Antisemitismus war an der Tagesordnung. Der Deutschlandkorrespondent William L. Shirer berichtete über die Glaubensspaltungen nach dem Ersten Weltkrieg:
„Selbst die Weimarer Republik war den meisten protestantischen Pastoren ein Gräuel; nicht nur weil sie zur Absetzung der Könige und Fürsten geführt hatte, sondern auch weil sie ihre Unterstützung hauptsächlich den Katholiken und Sozialisten verdankte.“ Dass Reichskanzler Adolf Hitler 1933 ein Konkordat mit dem Vatikan unterzeichnete, zeigt, wie oberflächlich grosse Teile des deutschen Christentums geworden waren. Wir können die Entfremdungstendenzen zwischen christlichem Glauben und dem Volk erahnen, wenn wir uns bewusst machen, dass so herausragende Persönlichkeiten der Kirche wie Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) eher die Ausnahme von der Regel repräsentierten. In Werken wie Nachfolge stellte Bonhoeffer die Schwäche der Kirchen heraus als Organisationen, die seiner Meinung nach keine wirkliche Botschaft hinsichtlich der Ängste der Menschen im Deutschland des 20. Jahrhunderts mehr anzubieten hätten. „Wo der Glaube überlebte“, schreibt der Geschichtsgelehrte Scott Jersak, „konnte er nicht mehr auf die Stimme einer Kirche bauen, die derart [ungezügeltes] Blutvergiessen [wie 1914-1918] göttlich zu legitimieren suchte.“ Er fügte hinzu: „Das Reich Gottes steht weder für leeren utopischen Optimismus noch für einen entglittenen Rückzug in ein bewachtes Refugium“. Der deutsche Theologe Paul Tillich (1886-1965), der gezwungen war, Deutschland 1933 zu verlassen, nachdem er im Ersten Weltkrieg als Feldgeistlicher gedient hatte, erkannte, dass die deutschen Kirchen weitestgehend zum Schweigen gebracht bzw. bedeutungslos geworden waren. Sie hätten es nicht vermocht, mit klarer Stimme Bevölkerung und Regierungen sowohl zur Übernahme von Verantwortung als auch zum Wandel zu bewegen. „Nicht an Höhenflüge gewöhnt, wurden wir in die Tiefe gerissen“, schrieb er später im Hinblick auf Hitler und das Dritte Reich (1933-1945). Wie wir gesehen haben, waren die Herausforderungen der modernen Zeit stets am Wirken. Es bedurfte der Schrecken und der Wirren eines zermürbenden Weltkrieges, um ihre volle Wirkung zur Entfaltung zu bringen.
Deshalb die verheerenden Folgen des „Krieges, der Gott tötete“ und dies nicht allein in Deutschland. Die kirchliche Stützung Hitlers trug mit dazu bei, dass es zu einem noch schlimmeren Schrecken, dem Zweiten Weltkrieg, kam. In diesem Zusammenhang sei bestärkend angemerkt, dass Gott für jene, die auf ihn vertrauten, durchaus noch lebendig war. Ein Jugendlicher namens Jürgen Moltmann musste miterleben, wie das Leben vieler seiner Mitschüler vom Gymnasium bei dem schrecklichen Bombardement Hamburgs ausgelöscht wurde. Diese Erfahrung führte bei ihm letztlich jedoch auch zu einer Belebung seines Glaubens, wie er schrieb:
„1945 sass ich als Kriegsgefangener in einem Lager in Belgien ein. Das Deutsche Reich war zusammengebrochen. Der deutschen Kultur war mit Auschwitz der Todesstoss versetzt worden. Meine Heimatstadt Hamburg lag in Ruinen, und in mir selbst sah es nicht anders aus. Ich fühlte mich von Gott und den Menschen im Stich gelassen und meine jugendlichen Hoffnungen im Keim erstickt [...] In dieser Situation gab mir ein amerikanischer Seelsorger eine Bibel zur Hand, und ich begann, sie zu lesen“.
Als Moltmann zufällig auf die Bibelstelle stiess, an der Jesu Aufschrei am Kreuz: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Matthäus 27,46) zitiert wird, begann er die Kernaussage der christlichen Botschaft besser zu verstehen. So führt er aus: „Ich verstand, dass dieser Jesus der göttliche Bruder in unserem Leid ist. Er schenkt den Gefangenen und Verlassenen Hoffnung. Er ist der eine, der uns von der Schuld erlöst, die uns niederdrückt und uns jeglicher Zukunftsperspektiven beraubt [...] Ich brachte den Mut auf, an einem Punkt, das Leben zu wählen, an dem man vielleicht bereit war, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Diese frühe Gemeinschaft mit Jesus, dem Bruder im Leiden, hat mich seither nie im Stich gelassen“ (Wer ist Christus für uns heute?, S. 2-3).
In Hunderten von Büchern, Artikeln und Vorlesungen versichert Jürgen Moltmann, dass Gott also doch nicht tot ist, dass er im von seinem Sohn ausgehenden Geiste fortlebt, jenes einen, den Christen Jesus Christus nennen. Wie beeindruckend, dass selbst hundert Jahre nach dem so genannten „Krieg, der Gott tötete“, Menschen noch immer in Jesus Christus einen Weg durch die Gefahren und Wirren unserer Zeit finden.
von Neil Earle