Zu allen Zeiten stand das Reich Gottes im Mittelpunkt weiter Teile der christlichen Lehre, und das zu Recht. Darüber ist insbesondere im 20. Jahrhundert ein Streit entbrannt. Übereinstimmung ist aufgrund des Umfangs und der Komplexität des biblischen Materials und der zahlreichen theologischen Themen, die sich mit dieser Thematik überschneiden, schwer zu erzielen. Es gibt darüber hinaus grosse Unterschiede hinsichtlich der geistlichen Einstellung, die Gelehrte und Pastoren leitet und sie zu den mannigfaltigsten Schlussfolgerungen gelangen lässt.
In dieser 6-teiligen Serie werde ich zur Stärkung unseres Glaubens auf die zentralen Fragen bezüglich Gottes Reichs eingehen. Dabei werde ich auf den Erkenntnisstand und die Sichtweise anderer zurückgreifen, die denselben, historisch verbrieften, konventionellen christlichen Glauben vertreten, zu dem wir uns in der Grace Communion International bekennen, einen Glauben, der auf der Heiligen Schrift fusst und mit Fokus auf Jesus Christus ausgelegt wird. Er ist es, der uns in unserer Anbetung des dreieinigen Gottes, des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes, führt. Dieser, die Inkarnation und Trinität in den Mittelpunkt stellende Glaubensansatz, wird bei aller Verlässlichkeit nicht jede Frage, die uns im Hinblick auf das Reich Gottes umtreiben mag, direkt beantworten können. Aber er wird eine tragende Fundierung und verlässliche Richtschnur abgeben, die uns ein bibeltreues Glaubensverständnis ermöglicht.
In den vergangenen 100 Jahren hat es im Hinblick auf zentrale Glaubensfragen zunehmende Übereinkunft unter jenen Bibelexegeten gegeben, die dieselbe grundlegende, theologische Gesinnung verbindet, die auch die unsrige ist. Bei ihr geht es um die Wahrhaftigkeit und Verlässlichkeit der biblischen Offenbarung, einen tragfähigen Ansatz zur Bibelauslegung sowie die Grundlagen christlichen Verständnisses (die Lehre) bezüglich solcher Fragen, wie der Göttlichkeit Christi, der Trinität Gottes, des zentralen Stellenwerts des Gnadenwerks Gottes, wie es in Christus kraft des Heiligen Geistes erfüllt ist, und des Erlösungswerks Gottes im Rahmen der Geschichte, auf dass es mit seiner von Gott vorgegebenen Zielsetzung, dem Endzweck, vollendet werde.
Wenn wir die Lehrmeinungen vieler Wissenschaftler fruchtbringend heranziehen könnten, scheinen zwei Ratgeber besonders hilfreich zu sein, um die zahllosen biblischen Zeugnisse hinsichtlich des Reiches Gottes zu einem (kohärenten) zusammenhängenden Ganzen zufügen: George Ladd, der aus der Perspektive der Bibelforschung schreibt, und Thomas F. Torrance, der mit seinen Beiträgen die theologische Sicht vertritt. Natürlich haben diese beiden Glaubensgelehrten von vielen anderen gelernt und beziehen sich in ihrem Denken auf sie. Sie haben das umfangreiche biblische und theologische Forschungsmaterial gesichtet.
Dabei haben sie den Schwerpunkt auf jene Schriften gelegt, die mit den oben bereits angesprochenen, grundlegenden, biblischen und theologischen Prämissen korrespondieren und die schlüssigsten, verständlichsten und umfassendsten Argumente im Hinblick auf das Reich Gottes widerspiegeln. Ich werde meinerseits auf die wichtigsten Aspekte ihrer Ergebnisse eingehen, die uns in unserem Glaubenswachstum und -verständnis weiterbringen.
Ladd und Torrance haben beide nachdrücklich deutlich gemacht, dass die biblische Offenbarung das Reich Gottes unmissverständlich mit der Person und dem Heilswirken Jesu Christi identifiziert. Dieser selbst verkörpert es und führt es herbei. Warum? Weil er der König aller Schöpfung ist. In seinem geistlichen Wirken als Mittler zwischen Gott und der Schöpfung verbindet sich sein Königtum mit priesterlichen und prophetischen Elementen. Das Reich Gottes ist mit und durch Jesus Christus wahrhaftig existent; denn er herrscht, wo immer er ist. Das Reich Gottes ist sein Reich. Jesus lässt uns wissen: „Und ich will euch das Reich zueignen, wie mir’ s mein Vater zugeeignet hat, dass ihr essen und trinken sollt an meinem Tisch in meinem Reich und sitzen auf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels“ (Lukas 22,29-30).
Zu anderer Zeit erklärt Jesus, das Reich Gottes gehöre ihm. Er spricht: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Johannes 18,36). Somit ist das Reich Gottes nicht losgelöst davon zu verstehen, wer Jesus ist und worum es in seinem ganzen Heilswirken geht. Jede Auslegung der Heiligen Schrift bzw. jede theologische Zusammenschau des exegetischen Materials, welches das Reich Gottes nicht auf der Grundlage der Person und des Wirkens Jesu Christi interpretiert, rückt damit vom Zentrum der christlichen Lehre ab. Sie wird unweigerlich zu anderen Schlussfolgerungen gelangen als eine, die von diesem Lebenszentrum christlichen Glaubens aus operiert.
Wie können wir nun ausgehend von jenem Lebenszentrum begreifen lernen, was es mit dem Reich Gottes auf sich hat? Zunächst sollten wir festhalten, dass Jesus selbst es ist, der das Kommen von Gottes Reich verkündet und dieses Faktum zu einem allumfassenden Thema seiner Lehre macht (Markus 1,15). Mit Jesus setzt die wahre Existenz des Reiches ein; er überbringt nicht nur die diesbezügliche Botschaft. Das Reich Gottes ist erlebbare Realität, wo immer Jesus ist; denn er ist der König. Das Reich Gottes ist in der lebendigen Präsenz und im Handeln des Königs Jesus wahrhaftig existent.
Von diesem Ausgangspunkt ausgehend vermittelt dann alles, was Jesus sagt und tut, den Charakter seines Reiches. Das Reich, das er uns geben will, ist von seiner Prägung her identisch mit dem seinen. Er trägt uns eine bestimmte Art von Reich an ein Reich, das seinen eigenen Charakter und seine Bestimmung verkörpert. Unsere Vorstellungen vom Reich Gottes müssen also damit im Einklang stehen, wer Jesus ist. Sie müssen ihn in allen Facetten widerspiegeln. Sie sollten auf eine Weise getragen sein, die uns mit all unseren Sinnen auf ihn verweisen und an ihn gemahnen lassen, so dass wir verstehen, dass dieses Reich das seine ist. Es gehört ihm und weist überall seine Handschrift auf. Daraus folgt, dass es beim Reich Gottes in erster Linie um die Herrschaft bzw. die Regentschaft Christi geht und nicht so sehr, wie es manche Auslegungen nahelegen, um himmlische Gefilde bzw. einen räumlichen oder geografischen Ort. Wo immer Christi Herrschaft seinem Willen und seiner Bestimmung gemäss am Wirken ist, dort befindet sich das Reich Gottes.
Vor allem muss sein Reich mit seiner Bestimmung als Erlöser in Verbindung stehen und damit mit seiner Fleischwerdung, Stellvertreterschaft, Kreuzigung, Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft zu unserem Heil verknüpft sein. Das heisst, dass seine Herrschaft als König nicht losgelöst von seinem Wirken als Offenbarer und Vermittler, der er gleichsam als Prophet und Geistlicher war, verstanden werden kann. Alle diese drei alttestamentlichen Funktionen, wie sie in Moses, Aaron und David verkörpert wurden, sehen sich in ihm auf einzigartige Weise verbunden und verwirklicht.
Seine Herrschaft und sein Wille unterliegen der Bestimmung, seine Schöpfung, seiner Hut und Güte anzuempfehlen, d.h. in seine Gefolgschaft, Gemeinschaft und Teilhabe einzubeziehen, indem er uns mit Gott durch seinen Kreuzestod aussöhnte. Letztendlich haben wir, wenn wir uns unter seine Hut begeben, Anteil an seiner Herrschaft und dürfen uns der Teilhabe an seinem Reich erfreuen. Und seine Herrschaft trägt die Züge von Gottes Liebe, die er uns in Christus und auf Vertrauen des in uns wirkenden Heiligen Geistes entgegenbringt. In der Liebe zu Gott und in der Nächstenliebe, wie sie sich in Jesus verkörpert sieht, kommt diese unsere Teilhabe an seinem Reich zum Ausdruck. Das Reich Gottes zeigt sich in einer Gemeinschaft, einem Volk, einer Gemeinde im Bund mit Gott kraft Jesu Christi und damit auch untereinander im Geiste des Herrn.
Aber eine solche in der Gemeinschaft erfahrene Liebe, wie wir ihrer in Christus teilhaftig werden, entspringt einem gelebten Vertrauen (Glauben) auf den erlösenden, lebendigen Gott und seine Herrschaft, wie sie immerwährend durch Christus ausgeübt wird. Somit ist der Glaube an Jesus Christus untrennbar an eine Einbindung in sein Reich gebunden. Das liegt daran, dass Jesus nicht allein verkündete, mit seinem nahenden Kommen werde auch das Reich Gottes näher rücken, sondern zudem zu Glauben und Zuversicht aufrief. So lesen wir: „Nachdem aber Johannes gefangen gesetzt war, kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium Gottes und sprach: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Busse und glaubt an das Evangelium!“ (Markus 1,14-15). Der Glaube an das Reich Gottes ist untrennbar mit dem Glauben an Jesus Christus verbunden. Im Glauben auf ihn zu vertrauen heisst, auf seine Herrschaft bzw. Regentschaft, sein gemeinschaftsstiftendes Reich zu setzen.
Jesus und mit ihm den Vater zu lieben heisst, alle sich in seinem Reich manifestierenden Verwirklichungen seiner selbst zu lieben und auf sie zu vertrauen.
Jesus ist der über das ganze Universum herrschende König aller Könige. Nicht ein einziger Winkel im ganzen Kosmos bleibt von seiner Erlösung schenkenden Macht ausgespart. Und so verkündet er, ihm sei alle Macht im Himmel wie auch auf Erden gegeben (Matthäus 28,18), d.h. über die ganze Schöpfung. Alles wurde durch ihn und für ihn erschaffen, wie der Apostel Paulus ausführt (Kolosser 1,16).
Lässt man Gottes Verheissungen Israel gegenüber noch einmal aufklingen, so ist Jesus Christus der „König aller Könige und Herr aller Herren“ (Psalm 136,1-3; 1.Timotheus 6,15; Offb.19,16). Ihm kommt genau die Herrschaftsmacht zu, die seiner würdig ist; ist er doch der eine, durch den alles erschaffen wurde und der kraft seiner Macht und seines Leben schenkenden Willens alles erhält (Hebräer 1,2-3; Kolosser 1,17).
Es sollte deutlich geworden sein, dass dieser Jesus, der Herr des Universums, keinen seinesgleichen kennt, keinen Rivalen, weder was die Schöpfung anbelangt noch die unschätzbare Gnadengabe unserer Erlösung. Während es Mitstreiter, Prätendenten und Usurpatoren gab, die weder über die Macht noch den Willen verfügten, Leben zu schaffen und zu schenken, hat Jesus alle Feinde, die sich seiner Herrschaft widersetzten, in die Knie gezwungen und niedergerungen. Als Fleisch gewordener Mittler seines Vaters stellt sich der Sohn Gottes kraft des Heiligen Geistes allem entgegen, das seiner wohlgeratenen Schöpfung und des Allmächtigen Bestimmung für alle Kreatur im Wege steht. In dem Masse, wie er sich all jenen Kräften gegenüber widersetzt, die seine wohlgelungene Schöpfung zu versehren oder zu zerstören und von seinen wunderbaren Zielen abzuweichen drohen, bringt er dieser Schöpfung seine Liebe entgegen. Würde er nicht jene bekämpfen, die diese zunichte machen wollen, wäre er nicht der ihr in Liebe verbundene Herr. Dieser Jesus stellt sich mit seinem himmlischen Vater und dem Heiligen Geist allem Übel unerbittlich entgegen, das das Leben und die von Liebe getragenen, auf Gemeinschaft bauenden Beziehungen zum einen mit ihm und im Gegenzug auch untereinander und zur Schöpfung torpediert, verzerrt und zerstört. Damit seine ursprüngliche, ultimative Bestimmung erfüllt wird, müssen sich alle seiner Herrschaft und seinem Recht widersetzenden Kräfte ihm in Busse unterwerfen oder sie werden zunichte gemacht. Das Böse hat im Reich Gottes keine Zukunft.
Jesus sieht also sich selbst, wie er auch von den Zeugen des Neuen Testaments dargestellt wird, als Erlösung bringender Sieger, der sein Volk von allem Übel und allen Feinden frei macht. Er befreit die Gefangenen (Lukas 4,18; 2. Korinther 2,14). Er überführt uns aus dem Reich der Finsternis in sein Reich des Lichts (Kolosser 1,13). Er „[hat] sich selbst für unsere Sünden dahingegeben [...], dass er uns errette von dieser gegenwärtigen, bösen Welt nach dem Willen Gottes, unseres Vaters“ (Galater 1,4). Genau in diesem Sinne ist zu verstehen, dass Jesus „[...] die Welt überwunden [hat]“ (Johannes 16,33). Und damit macht er „alles neu!“ (Offenbarung 21,5; Matthäus 19,28). Der kosmische Geltungsbereich seiner Herrschaft und die Unterjochung alles Bösen unter seine Herrschaft legen über unsere Vorstellungskraft hinausgehend Zeugnis vom Wunder seiner von Gnade getragenen Königsherrschaft ab.
von Gary Deddo