Spiegelbild neuer Schöpfung
Wenn Sie in den Spiegel blicken, welches Bild erscheint Ihnen? In dem bekannten Märchen hielt Schneewittchens böse Stiefmutter sich für die Schönste im ganzen Land – ein Bild, das sie nur durch einen verzauberten Spiegel erlangen konnte. Mein Spiegel spricht nicht, er zeigt mir ein gestochen scharfes, wenn auch seitenverkehrtes Bild meiner selbst. Dieses Abbild enthüllt keinen makellosen Menschen, sondern einen älteren, stellenweise kahlen, rundlichen und verschlafenen Morgenmuffel. Der Spiegel offenbart zudem einen egoistischen, habsüchtigen und eitlen Menschen, der trotz eines lebenslangen Kampfes gegen die Sünde immer wieder die Kontrolle verliert, sich Unverschämtheiten erlaubt und es mit der Wahrheit nicht genau nimmt. Andere Menschen mögen in mir einen durchschnittlichen, sympathischen Zeitgenossen erkennen, mit dem man gerne essen geht oder ein Fussballspiel besucht. Paulus schreibt, dass der Spiegel nicht unser wahres Selbst offenbart, sondern nur ein verzerrtes, unvollständiges Bild: «Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin» (1. Korinther 13,12).
Unser gegenwärtiges Leben gleicht einem unfertigen Werk. Eines Tages werden wir uns so erkennen, wie Gott uns für ein Leben in Jesus Christus geschaffen hat und wie er uns bereits heute kennt. Sobald wir unser Leben Gott überantwortet haben, werden wir wiedergeboren zu einem neuen geistlichen Leben: «Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden» (2. Korinther 5,17).
Durch die Bekehrung nehmen wir in Christus das Bild Gottes, unseres Schöpfers, an. Ihr Leben soll diese neue geistliche Realität widerspiegeln. Paulus ermahnt uns deshalb: «Seid ihr nun mit Christus auferweckt, so sucht, was droben ist, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist. Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, offenbar wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit ihm in Herrlichkeit» (Kolosser 3,1-4).
Diese Wahrheit betrifft nicht nur eine zukünftige Zeit – sie ist bereits Realität. Beim Blick in den Spiegel kann ich nicht das neue Ich erkennen, das mit Christus zur Rechten des Vaters sitzt, sondern den mir vertrauten Sünder, der sich mühsam zu bessern versucht. Paulus erinnert uns daran, dass wir gestorben und mit Christus auferstanden sind. Das neue Leben in ihm mag zunächst verborgen bleiben, bis Christus sich offenbart. In jenem Augenblick wird auch unser wahres Ich sichtbar, so wie Gott es für uns in Jesus Christus vorgesehen hat. Das Heil kann nicht erarbeitet werden und wir werden durch eigene Anstrengungen weder gerecht noch moralisch vollkommen. Gott hat alles Notwendige bereits für uns getan. Es geht nicht darum, nach massstäblichen Anforderungen zu streben, sondern darauf zu vertrauen, dass wir in Christus auferstanden und zu einem neuen Menschen geworden sind.
Im gesamten Neuen Testament ruft Paulus zu rechtschaffenem Verhalten auf, weil wir bereits in Christus sind und er in uns durch den Geist Gottes lebt. Er verlangt nicht, dass wir uns bessern müssen, um von ihm angenommen zu werden. Die Vorstellung, dass wir erst gut sein müssen, bevor Gott uns errettet, verliert ihren Wert. Es geht darum, an die bereits gewordene Wirklichkeit zu glauben: «Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren» (Römer 5,8).
Aus der Erfahrung als Feinde Gottes erwächst nun das verheissene Leben, das in seiner Fülle zur Seligkeit führt: «Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind» (Römer 5,10).
Der verstorbene Theologe Thomas Torrance formulierte dies folgendermassen: «Gerade deshalb, weil Sie sündig und seiner vollkommen unwürdig sind, ist Jesus Christus für Sie gestorben und hat Sie dadurch – ganz unabhängig davon, ob Sie an ihn glauben oder je an ihn glauben werden – bereits sein eigen gemacht. Durch seine Liebe hat er Sie unlösbar an sich gebunden, weil seine Liebe, auch wenn Sie ihn zurückweisen, nie erlöschen wird».
Eine so umfassende Heilstat, eine unbeschreibliche Liebe und bedingungslose Gnade können nicht erarbeitet oder verändert werden – weder durch gutes noch durch schlechtes Verhalten. Einziger Zugang ist der Glaube. Durch Jesus Christus hat Gott uns bereits alles geschenkt: Gnade, Rechtfertigung und Heil. Alles, was wir tun können, ist darauf zu vertrauen, dass er unser Heil und unser Leben ist: «Wenn aber Christus, euer Leben, offenbar wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit ihm in Herrlichkeit» (Kolosser 3,4).
Häufig besteht die Vorstellung, das Evangelium fordere dazu auf, uns zu bessern, nach dem Motto «Werden Sie ein anständiger Mensch, dann liebt Sie Gott». Tatsächlich steht im Zentrum des Evangeliums die Liebe – die Liebe Gottes zu uns, die bereits vor unserer Bekehrung existierte und aus der unsere Liebe zu ihm erwächst: «Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt» (1. Johannes 4,19).
Gott liebte Sie, noch bevor Sie geboren wurden, und er liebt Sie auch heute, selbst wenn Sie in gewissen Situationen sündigen. Er wird Sie nie verlassen, auch wenn Sie an moralischen Vorstellungen von gutem Verhalten an keinem einzigen Tag vollkommen gerecht werden. Dies ist die frohe Botschaft und Wahrheit des Evangeliums: Jesus Christus ist unsere Gerechtigkeit, unser Heil und unsere Erlösung: «Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der für uns zur Weisheit wurde durch Gott und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, auf das gilt, wie geschrieben steht: Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!» (1. Korinther 1,30).
Alles, was uns zuteilwird, entspringt nicht aus unserer eigenen Kraft. Wir tragen keinen Anteil zum Heil bei; vielmehr dürfen wir darauf bauen, dass er für uns alles ist, was wir aus eigener Kraft nicht erreichen können.Die Erkenntnis, dass er Sie zuerst geliebt hat, befreit von der Selbstsucht des Herzens und ermöglicht es, ihn und den Nächsten aufrichtig zu lieben. Liebe kann nicht erzwungen oder vertraglich festgelegt werden; sie wird frei geschenkt und frei angenommen. Gott schenkt uns seine Liebe und möchte, dass wir sie dankbar empfangen.
Der Heilige Geist leitet und lädt uns zur Teilhabe an dem neuen Leben der Liebe ein, das Gott uns in Christus geschenkt hat, damit wir erfahren, wie wir zu dem neuen Menschen werden, zu dem uns Gott in Jesus Christus bereits gemacht hat. So kennt und sieht uns Gott, auch wenn wir uns selbst dies noch nicht vollständig vergegenwärtigen können oder zugestehen. Beim nächsten Blick in den Spiegel bedenken Sie einen Augenblick, wie Gott Sie sieht. Er erkennt in Ihnen das wahre Bild – sein geliebtes Kind, dessen Sünden vergeben und Schuld getilgt sind, zu dem er ein neues Geschöpf in Jesus Christus geschaffen hat. Der Spiegel mag zeigen, was er will. Vergessen Sie nie: Ihr neues Ich sitzt bereits mit Jesus zur Rechten des Vaters, geliebt und behütet, in Erwartung des Tages, an dem Christus sich offenbaren wird. Was Gott in Ihnen sieht, ist das wahre Bild.
von J. Michael Feazell
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