Im Fernsehen gab es eine Reportage über einem Mann in Sibirien, der sich dem «irdischen Leben» entzog und in ein Kloster ging. Er verliess seine Frau und seine Tochter, gab seine kleine Firma auf und widmete sich ganz und gar der Kirche. Der Reporter stellte ihm die Frage, ob er manchmal von seiner Frau besucht werde. Er sagte nein, Besuche von Frauen seien nicht erlaubt, da man in Versuchung geraten könnte. Nun, wir mögen denken, so etwas könnte uns nicht passieren. Vielleicht würden wir uns nicht gleich in ein Kloster zurückziehen. Diese Geschichte hat eine Ähnlichkeit mit unserem Leben. Als Christen bewegen wir uns in zwei Welten, zwischen der irdischen und der geistlichen Existenz. Unser Glaubensweg gleicht einer Gratwanderung.
Die Gefahren, zu sehr auf die eine oder die andere Seite zu geraten, begleiten uns auf unserem Lebensweg. Gleiten wir auf der einen Seite ab, sind wir zu irdisch gesinnt; gleiten wir auf der anderen Seite hinunter, leben wir zu fromm. Entweder neigen wir zur Religiosität oder wir leben zu weltlich. Ein Mensch, der zu sehr auf das Himmlische fokussiert ist und nur darauf wartet, bis alles vorbei ist, verliert oft die Fähigkeit, die schönen Geschenke zu geniessen, die Gott bereithält. Er mag denken: Hat uns Gott nicht gelehrt, dass wir uns von der Welt distanzieren sollen, da sein Reich nicht von dieser Welt ist und weil sie gefallen ist? Aber was macht das Wesen dieser Welt aus? Es sind menschliche Leidenschaften, das Streben nach Besitz und Macht, ein Leben geprägt von Selbstzufriedenheit und Stolz. All das stammt nicht von Gott, sondern gehört zur weltlichen Sphäre.
Die Person, die zu stark auf das Himmlische ausgerichtet ist, zieht sich oft unbewusst aus der Welt zurück, vernachlässigt dabei Familie und Freunde und widmet sich ausschliesslich dem Bibelstudium und der Meditation. Gerade in Zeiten, in denen es uns nicht gut geht und wir mit Problemen konfrontiert sind, neigen wir dazu, der Welt zu entfliehen. Es kann ein Fluchtweg sein, da wir das Leid und die Ungerechtigkeit um uns herum nicht mehr ertragen können. Jesus Christus kam in diese gefallene Welt, erniedrigte sich selbst, indem er Mensch wurde, und erlitt einen grausamen Tod, damit alle Menschen gerettet werden können. Er kam als Licht in die Dunkelheit, um Hoffnung zu spenden und das Leid zu lindern.
Obwohl Gott wusste, wie es um diese Welt steht, hat er so vieles für den Menschen erschaffen, damit dieser sich daran erfreuen kann, wie Musik, Düfte, Speisen, Menschen, die wir lieben, Tiere und Pflanzen. David preist Gottes Schöpfung: «Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?» (Psalm 8,4–5).
Auch unser sterblicher Körper ist wunderbar geschaffen, wie es David ausdrückt und Gott dafür dankt: «Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele» (Ps139,13–14).
Eine der grössten Gaben, die Gott uns gegeben hat, ist es, sich freuen und geniessen zu können. Er hat uns mit fünf Sinnen und mit Gefühlen ausgestattet, damit wir uns am Leben erfreuen können. Welche Gefahren begegnen den zu «irdisch» Gesinnten? Vermutlich gehören wir zu denjenigen, die keine Probleme haben, Menschen auf gleicher Augenhöhe zu erreichen, wir sind Beziehungsmenschen. Vielleicht neigen wir aber dazu, Kompromisse zu machen, um Anderen zu gefallen oder einen geliebten Menschen nicht zu verlieren. Vielleicht nehmen wir uns zu viel Zeit für Familie und Freunde und vernachlässigen unsere stille Zeit mit Gott. Natürlich sollten wir anderen helfen und für sie da sein, doch wir sollten ihre Bequemlichkeit nicht unterstützen oder uns ausnutzen lassen. Auch als Christen sollten wir lernen, «Nein» zu sagen und unsere Prioritäten richtig setzen. Das Wichtigste ist unsere Beziehung zu Gott, alles andere sollte untergeordnet sein. Jesus macht es deutlich, was er von uns fordert: «Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern, dazu auch sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein» (Lukas 14,26).
Unsere Liebe zu Gott ist das Bedeutungsvollste, aber auch unsere Mitmenschen sollen wir lieben. Nun, wie können wir diese Gratwanderung meistern, ohne auf der einen oder anderen Seite abzustürzen? Der Schlüssel dazu ist Ausgeglichenheit – und der ausgeglichenste Mensch, der je gelebt hat, war Jesus Christus, der Menschensohn. Nur durch sein Wirken in uns können wir diese Ausgeglichenheit erreichen. Jesus sagte zu seinen Jüngern, kurz vor seinem Tod: «Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun» (Johannes 15,5). Er zog sich oft zurück und verbrachte viel Zeit im Gebet mit dem Vater. Er verherrlichte Gott durch seine Werke und Heilungen. Er litt mit den Leidenden und freute sich mit den Fröhlichen. Er konnte mit Reichen und mit Armen umgehen.
Paulus offenbart seine Sehnsucht: «Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden» (2. Korinther 5,2). Ja, wir sehnen uns danach, unserem Schöpfer zu begegnen, in Ewigkeit bei ihm zu sein. Wir sehnen uns nach der Zeit, wenn all das Leid in dieser Welt vorbei ist und Gottes Gerechtigkeit herrscht. Wir sehnen uns danach, von der Sünde befreit und mehr und mehr der Neue Mensch zu werden.
Wie würde Jesus Christus das Leben des Mannes beurteilen, der seine Familie im Stich lässt, seinen irdischen Verantwortungen entflieht und sein eigenes Heil sucht? Wie passt dies zu dem Auftrag, den Gott uns gegeben hat, Menschen für Ihn zu gewinnen? Es kann jedem von uns passieren, dass wir unsere Familie oder andere Menschen vernachlässigen und uns nur dem Bibelstudium zuwenden. Wir werden weltfremd und können die Sorgen und Nöte der Menschen nicht verstehen. Doch wir müssen uns fragen, wie Jesus Christus unser Leben in dieser Welt sehen möchte? Welchen Zweck hat es? Wir sind da, um einen Auftrag zu erfüllen – Menschen für Gott zu gewinnen.
Jesus sprach zu den Brüdern Simon und Andreas: «Kommt, folgt mir nach! Ich will euch zu Menschenfischern machen» (Matthäus 4,19). Jesus konnte die Menschen erreichen, indem er in Gleichnissen sprach. Alles, was er tat, hat er dem Willen seines Vaters untergeordnet. Mit Jesu Hilfe können wir diese Gratwanderung bewältigen. Bei allem, was wir tun, und bei allen Entscheidungen, die wir treffen, sollten wir wie Jesus Christus sagen: «Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!» (Lukas 22,42). Wir sollten auch sagen: Dein Wille geschehe!
von Christine Joosten
Weitere Artikel über das Leben als Christ: