Das Kreuz auf Golgatha

751 das kreuz auf golgathaJetzt ist es ruhig auf dem Hügel. Nicht still, sondern ruhig. Zum ersten Mal an jenem Tag herrscht kein Lärm. Der Tumult liess nach, als die Dunkelheit hereinbrach — jene rätselhafte Dunkelheit mitten am Tag. Wie Wasser ein Feuer löscht, so erstickte die Düsterkeit den Spott. Der Hohn, die Witze und Neckereien verstummten. Ein Betrachter nach dem anderen wandte sich ab und machte sich auf den Heimweg. Oder besser gesagt, alle Betrachter ausser Sie und ich. Wir gingen nicht weg. Wir kamen, um zu lernen. Und so verweilten wir in der Halbdunkelheit und spitzten die Ohren. Wir hörten die Soldaten fluchen, die Vorübergehenden Fragen stellen und die Frauen weinen. Doch vor allem horchten wir auf das Stöhnen der drei sterbenden Männer. Ein heiseres, raues, durstiges Ächzen. Sie stöhnten jedes Mal, wenn sie den Kopf hin und her warfen und die Stellung der Beine veränderten.

In dem Masse, wie die Minuten und Stunden sich schleichend hinschleppten, liess das Stöhnen nach. Die drei schienen tot. Jedenfalls hätte man das denken können, wäre nicht ihr quälendes Atemgeräusch gewesen. Dann schrie einer. Als hätte ihn jemand an den Haaren gezogen, schlug er mit dem Hinterkopf gegen das Schild, auf dem sein Name stand, und wie er schrie. Wie ein Dolch den Vorhang zerriss, zerriss sein Schrei die Dunkelheit. So aufrecht wie die Nägel es zuliessen, schrie er wie jemand, der nach einem verlorenen Freund ruft: «Eloi!» Seine Stimme war heiser und rau. Die Flamme der Fackel spiegelte sich in seinen weit aufgerissenen Augen. «Mein Gott!» Er achtete nicht auf den auflodernden rasenden Schmerz, sondern schob sich nach oben, bis die Schultern höher als die festgenagelten Hände waren. «Warum hast du mich verlassen?» Die Soldaten starrten ihn erstaunt an. Das Weinen der Frauen hörte auf. Einer der Pharisäer rief höhnisch: «Er ruft nach Elia.» Niemand lachte. Er hatte dem Himmel eine Frage zugerufen und man erwartete fast, dass der Himmel eine Antwort zurückrief. Und offensichtlich geschah das. Denn das Gesicht Jesu entspannte sich und er sprach ein letztes Mal: «Es ist vollbracht. Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.»

Bei seinem letzten Atemzug begann die Erde plötzlich zu beben. Ein Fels kam ins Rollen, ein Soldat stolperte. Dann, so plötzlich wie die Stille unterbrochen worden war, kehrte sie wieder zurück. Alles ist ruhig. Der Spott ist verstummt. Kein Spötter ist mehr da. Die Soldaten sind damit beschäftigt, die Hinrichtungsstätte aufzuräumen. Zwei Männer sind gekommen. Sie sind gut gekleidet und der Leichnam Jesu wird ihnen ausgehändigt. Und wir bleiben mit den Überresten seines Todes zurück. Drei Nägel in einer Büchse. Drei kreuzförmige Schatten. Eine geflochtene Krone mit scharlachroten Dornen. Seltsam, nicht wahr? Der Gedanke, dass dieses Blut nicht nur das Blut eines Menschen, sondern Gottes Blut ist? Verrückt, oder? Zu denken, dass diese Nägel Ihre Sünden an ein Kreuz hefteten?

Absurd, finden Sie nicht auch? Dass ein Schurke betete und sein Gebet auch noch erhört wurde? Oder ist es noch absurder, dass ein anderer Schurke nicht betete? Ungereimtheiten und Ironien. Golgatha umfasst beides. Wir hätten diesen Augenblick ganz anders gestaltet. Wären wir gefragt worden, wie Gott seine Welt erlösen sollte, so hätten wir ein völlig anderes Szenario entworfen. Weisse Pferde, blitzende Schwerter. Das Böse flach auf dem Rücken liegend. Gott auf seinem Thron. Aber ein Gott am Kreuz? Ein Gott mit aufgesprungenen Lippen und verschwollenen, blutunterlaufenen Augen am Kreuz? Ein Gott, dem ein Schwamm ins Gesicht geschoben und ein Speer in die Seite gestossen wird? Zu dessen Füssen gewürfelt wird? Nein, wir hätten das Drama der Erlösung anders inszeniert. Doch wir wurden nicht gefragt. Die Spieler und Requisiten wurden sorgfältig vom Himmel ausgewählt und von Gott bestimmt. Wir wurden nicht gebeten, die Stunde festzulegen.

Doch wir werden aufgefordert, darauf zu reagieren. Damit das Kreuz Christi das Kreuz Ihres Lebens werden kann, müssen Sie etwas zum Kreuz bringen. Wir haben gesehen, was Jesus den Menschen gebracht hat. Mit vernarbten Händen schenkte er Vergebung. Mit geschundenem Körper versprach er Annahme. Er hat sich auf den Weg gemacht, um uns nach Hause zu bringen. Er trug unsere Kleidung, um uns seine Kleider zu geben. Wir haben die Geschenke gesehen, die er gebracht hat. Jetzt stellen wir uns die Frage, was wir bringen. Wir werden nicht gebeten, das Schild mit der Aufschrift zu malen oder die Nägel zu tragen. Wir werden nicht gebeten, uns anspucken zu lassen oder die Dornenkrone zu tragen. Doch wir werden aufgefordert, den Weg zu gehen und etwas am Kreuz zurückzulassen. Wir müssen das natürlich machen. Viele tun es nicht.

Was wollen Sie am Kreuz zurücklassen?

Viele haben getan, was wir getan haben: Zahllose Menschen haben vom Kreuz gelesen, Intelligentere als ich haben darüber geschrieben. Viele haben darüber nachgesonnen, was Christus am Kreuz zurückgelassen hat; wenige haben darüber nachgesonnen, was wir selbst dort zurücklassen müssen.
Darf ich Sie inständig bitten, etwas am Kreuz zurückzulassen? Sie können das Kreuz betrachten und genau untersuchen. Sie können darüber lesen, sogar zu ihm beten. Doch solange Sie dort nichts zurückgelassen haben, haben Sie das Kreuz nicht von ganzem Herzen angenommen. Sie haben gesehen, was Christus zurückgelassen hat. Wollen Sie nicht auch etwas zurücklassen? Warum beginnen Sie nicht mit Ihren wunden Punkten? Jene schlechten Gewohnheiten? Lassen Sie sie am Kreuz zurück. Ihre ichsüchtigen Launen und faulen Ausreden? Geben Sie sie Gott. Ihre Saufgelage und Ihre Frömmelei? Gott will das alles. Jedes Versagen, jede Schlappe. Er will das alles. Warum? Weil er weiss, dass wir damit nicht leben können.

Als Kind habe ich oft auf dem weiten Feld hinter unserem Haus Fussball gespielt. An manch einem Sonntagnachmittag habe ich versucht, die berühmten Fussballstars nachzuahmen. Weite Felder in West-Texas sind voller Kletten. Kletten tun weh. Man kann nicht Fussball spielen, ohne hinzufallen, und man kann auf kein Feld in West-Texas fallen, ohne voller Kletten zu sein. Unzählige Male war ich so hoffnungslos mit Kletten übersät, dass ich um Hilfe bitten musste. Kinder lassen sich die Kletten nicht von anderen Kindern ablesen. Dazu braucht man jemanden mit geschickten Händen. In solchen Fällen hinkte ich ins Haus, sodass mein Vater die Kletten herausreissen konnte - schmerzhaft, eine nach der anderen. Ich war nicht aussergewöhnlich intelligent, aber ich wusste: Wenn ich wieder spielen wollte, musste ich die Kletten loswerden. Jeder Fehler im Leben ist wie eine Klette. Man kann nicht leben, ohne zu fallen, und man kann nicht fallen, ohne dass etwas an einem kleben bleibt. Doch wissen Sie was? Wir sind nicht immer so schlau wie junge Fussballer. Manchmal versuchen wir, ins Spiel zurückzukehren, ohne vorher die Kletten loszuwerden. Es ist, als wollten wir verheimlichen, dass wir gefallen sind. Deshalb tun wir so, als seien wir nicht gefallen. Folglich leben wir mit Schmerzen. Wir können nicht richtig gehen, nicht richtig schlafen, nicht richtig zur Ruhe kommen. Und wir werden reizbar. Will Gott, dass wir so leben? Keinesfalls. Hören Sie dieses Versprechen: «Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde» (Römer 11,27).

Gott tut mehr, als unsere Fehler nur zu vergeben; er nimmt sie weg! Wir müssen sie ihm einfach nur bringen. Er will nicht nur die Fehler, die wir gemacht haben. Er will die Fehler, die wir gerade machen! Machen Sie zurzeit Fehler? Trinken Sie zu viel? Betrügen Sie bei Ihrer Arbeit oder betrügen Sie Ihren Ehepartner? Haushalten Sie mit Ihrem Geld schlecht? Führen Sie Ihr Leben eher schlecht als recht? Wenn ja, geben Sie nicht vor, es sei alles in Ordnung. Tun Sie nicht so, als würden Sie nie fallen. Versuchen Sie nicht, ins Spiel zurückzukehren. Gehen Sie erst zu Gott. Der erste Schritt nach einem Fehltritt muss auf das Kreuz zugehen. «Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt» (1. Johannes 1,9).
Was können Sie am Kreuz zurücklassen? Beginnen Sie mit Ihren wunden Punkten. Und wenn Sie schon dabei sind, geben Sie Gott all Ihren Groll.

Kennen Sie die Geschichte von dem Mann, der von einem Hund gebissen wurde? Als er erfuhr, dass der Hund Tollwut hatte, begann er eine Liste zu erstellen. Der Arzt teilte ihm mit, dass es nicht nötig sei, sein Testament zu machen, dass Tollwut heilbar ist. Oh, ich mache nicht mein Testament, erwiderte er. Ich schreibe eine Liste all der Leute, die ich beissen möchte. Könnten wir nicht alle eine solche Liste erstellen? Sie haben bestimmt schon erlebt, dass Freunde nicht immer freundlich sind, manche Arbeiter nie arbeiten und manche Chefs immer den Chef herauskehren. Sie haben bereits erlebt, dass Versprechen nicht immer gehalten werden. Nur weil jemand Ihr Vater ist, bedeutet es nicht, dass dieser Mann sich auch wie ein Vater verhält. Manches Paar sagt zwar das Jawort in der Kirche, doch in der Ehe sagen sie «nein» zueinander. Bestimmt haben Sie schon erlebt, dass wir gerne zurückschlagen, zurückbeissen, Listen führen, schnippische Bemerkungen machen und Leute anschnauzen, die wir nicht mögen.

Gott will unsere Liste. Einen seiner Diener hat er zu folgender Äusserung angeregt: «Liebe rechnet das Böse nicht zu» (1. Korinther 13,5). Er will, dass wir die Liste am Kreuz zurücklassen. Das ist nicht leicht. Schau, was sie mir angetan haben, entrüsten wir uns und zeigen auf unsere Verletzungen. Schau, was ich für dich getan habe, erinnert er uns und zeigt auf das Kreuz. Paulus drückte es so aus: «Vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch» (Kolosser 3,13).

Sie und ich werden nicht inständig gebeten - nein, uns wird befohlen keine Liste zu führen mit all dem Unrecht, das uns geschah. Übrigens, wollen Sie wirklich solch eine Liste führen? Wollen Sie wirklich ein Verzeichnis all Ihrer Kränkungen und Verletzungen anfertigen? Wollen Sie Ihr Leben lang nur grollen und schmollen? Gott will das nicht. Geben Sie Ihre Sünden auf, bevor Sie von ihnen vergiftet, Ihre Bitterkeit, bevor Sie von ihr angestachelt, und Ihre Sorgen, bevor Sie von ihnen erdrückt werden. Geben Sie Gott Ihre Ängste und Sorgen.

Ein Mann erzählte seinem Psychologen, dass ihm seine Ängste und Sorgen den Nachtschlaf raubten. Der Arzt hatte die Diagnose parat: Sie sind zu verkrampft. Die meisten von uns sind das. Wir Eltern sind in einer besonders heiklen Lage. Meine Töchter kommen in das Alter, in dem sie anfangen, Auto zu fahren. Es kommt mir vor, als habe ich ihnen erst gestern das Laufen beigebracht, und jetzt sehe ich sie hinter einem Lenkrad. Ein Furcht erregender Gedanke. Ich hatte schon daran gedacht, an Jennys Auto einen Aufkleber anzubringen mit der Aufschrift: Wie fahre ich? Rufen Sie meinen Papa an. Dann meine Telefonnummer. Was machen wir mit diesen Ängsten? Bringen Sie Ihre Sorgen ans Kreuz - ganz wörtlich. Wenn Sie sich das nächste Mal um Ihre Gesundheit oder Ihr Haus oder Ihre Finanzen oder eine Reise sorgen, gehen Sie im Geist den Hügel hinauf. Verbringen Sie ein paar Augenblicke dort und schauen Sie noch einmal auf das Zubehör der Leiden Christi.

Fahren Sie mit dem Finger über die Speerspitze. Wiegen Sie einen Nagel in Ihrer Handfläche. Lesen Sie die Holztafel in Ihrer eigenen Sprache. Und berühren Sie dabei die weiche Erde, feucht von dem Blut Gottes. Sein Blut, das er für Sie vergossen hat. Den Speer, der ihn für Sie getroffen hat. Die Nägel, die er für Sie gespürt hat. Das Schild, das Zeichen, das er für Sie zurückgelassen hat. All das hat er für Sie getan. Glauben Sie nicht, dass er gerade dort nach Ihnen Ausschau hält, da Sie ja alles wissen, was er an jenem Ort für Sie getan hat? Oder wie Paulus schrieb: «Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?» (Römer 8,32).

Tun Sie sich selbst einen Gefallen und bringen Sie all Ihre Ängste und Sorgen zum Kreuz. Lassen Sie sie dort zurück, zusammen mit Ihren wunden Punkten und Ihrem Groll. Und darf ich noch einen Vorschlag machen? Bringen Sie auch Ihre Sterbestunde zum Kreuz. Wenn Christus nicht vorher wiederkommt, werden Sie und ich eine Sterbestunde haben, einen letzten Augenblick, einen letzten Atemzug, ein letztes Aufschlagen der Augen und ein letztes Schlagen des Herzens. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde werden Sie das, was Sie kennen, verlassen und in etwas eintreten, das Sie nicht kennen. Das beunruhigt uns. Der Tod ist die grosse Unbekannte. Vor unbekannten Dingen scheuen wir uns immer ein bisschen.

Auf meine Tochter Sara traf das jedenfalls zu. Denalyn, meine Frau und ich dachten, es sei eine grossartige Idee. Wir würden die Mädchen aus der Schule entführen und mit ihnen einen Wochenendausflug machen. Wir buchten ein Hotel und klärten die Reise mit den Lehrern ab, hielten aber vor unseren Töchtern alles geheim. Als wir am Freitagnachmittag in Saras Klassenzimmer auftauchten, dachten wir, sie würde begeistert sein. Doch das war sie nicht. Sie hatte Angst. Sie wollte die Schule nicht verlassen! Ich versicherte ihr, dass nichts passiert ist, dass wir gekommen seien, um mit ihr zu einem Ort zu fahren, an dem sie ihren Spass haben würde. Es funktionierte nicht. Als wir am Auto ankamen, weinte sie. Sie war verstört. Die Unterbrechung gefiel ihr nicht. Uns gefällt etwas Ähnliches auch nicht. Gott verspricht, zu einer unerwarteten Stunde zu kommen, um uns aus der grauen Welt, die wir kennen, in eine goldene Welt zu holen, die wir nicht kennen. Aber da wir diese Welt nicht kennen, wollen wir eigentlich gar nicht dorthin gehen. Bei dem Gedanken an sein Kommen geraten wir sogar aus der Fassung. Aus diesem Grund möchte Gott, dass wir das tun, was Sara schliesslich tat - ihrem Vater vertrauen. «Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!», beteuerte Jesus und sagte weiter: «Ich will wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin» (Johannes 14,1 und 3).

Übrigens, nach kurzer Zeit entspannte sich Sara und genoss den Ausflug. Sie wollte gar nicht mehr zurück. Ihnen wird es genauso gehen. Sind Sie wegen Ihrer Sterbestunde beunruhigt? Lassen Sie auch Ihre furchtsamen Gedanken um Ihre Sterbestunde am Fuss des Kreuzes zurück. Lassen Sie sie dort zurück, zusammen mit Ihren wunden Punkten und Ihrem Groll und all Ihren Ängsten und Sorgen.

von Max Lucado

 


Dieser Text wurde aus dem Buch «Weil du es ihm wert bist» von Max Lucado entnommen, das von SCM Hänssler ©2018 herausgegeben wurde. Max Lucado war langjähriger Pastor der «Oak Hills Church» in San Antonio, Texas. Er ist verheiratet, Vater von drei Töchtern und Verfasser vieler Bücher. Verwendung mit Genehmigung.