Baumstrunk im Wohnzimmer
Mein Vater dekorierte unser Wohnzimmer mit einem Baumstumpf. Ich war damals noch ein Kind, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Das perfekte Alter, um von der Vorstellung fasziniert zu sein, dass bei uns ein Baumstumpf neben dem Kamin stand. Über dem Kamin hing eine Uhr. Neben dem Kamin stand Kaminwerkzeug. Neben dem Werkzeug - der Baumstumpf. Genial!
Er brachte ihn mit, als er eines Tages von der Arbeit kam. Der Stamm nahm den grössten Teil der Ladefläche seines Pick-ups ein. Dort lag er, als ich ihn zum ersten Mal sah. Mein Vater zerrte ihn von der Ladefläche und liess ihn auf den Betonboden der Einfahrt fallen. Was ist das, Dad? Das ist ein Baumstrunk, entgegnete er. Stolz schwang in seiner Stimme mit.
Mein Vater arbeitete auf den Ölfeldern im Westen von Texas. Seine Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass die Pumpen reibungslos liefen. Und offensichtlich hatte dieser Baumstumpf seine Arbeit behindert. Ehrlich gesagt weiss ich nicht mehr, warum er ihn störte. Vielleicht hatte er ihm den Weg zu einer der Maschinen versperrt. Vielleicht hatte er zu weit über einen Fahrweg geragt. Was auch immer der Grund gewesen war: Der Stamm hatte ihn daran gehindert, seine Arbeit so zu erledigen, wie er es wollte. Also riss er ihn aus dem Boden. Mein Vater legte das eine Ende einer Kette um den Baumstumpf und das andere um seine Anhängerkupplung. Der Wettkampf war vorbei, noch ehe er begonnen hatte.
Aber es genügte ihm nicht, den Baumstumpf nur herauszureissen; er wollte ihn zur Schau stellen. Manche Männer hängen sich Hirschgeweihe an die Wand. Andere füllen ganze Zimmer mit ausgestopften Tieren. Mein Vater beschloss, unser Wohnzimmer mit einem Baumstumpf zu dekorieren.
Mutter war davon alles andere als begeistert. Während die beiden in der Einfahrt standen und einen hitzigen Meinungsaustausch hatten, nahm ich die erlegte Beute unter die Lupe. Der Baumstumpf war so dick wie meine jungenhaften Hüften. Die Rinde war schon lange vertrocknet und liess sich leicht abschälen. Daumendicke Wurzeln hingen schlaff herunter. Ich habe mich noch nie für einen Experten in Sachen «tote Bäume» gehalten, aber so viel wusste ich: Dieser Baumstumpf war eine echte Schönheit.
Im Verlauf der Jahre habe ich oft darüber nachgedacht, warum mein Vater einen Baumstumpf als Dekoration verwendet hat - vor allem, weil ich mich selbst auch eher für einen Baumstumpf hielt. Als Gott mich fand, war ich ein unfruchtbarer Stumpf mit tiefen Wurzeln. Ich machte die Landschaft dieser Welt kein bisschen schöner. Niemand konnte sich in den Schatten meiner Äste legen. Ich stand dem Werk des Vaters sogar im Weg. Und trotzdem fand er einen Platz für mich. Es brauchte einen kräftigen Ruck und eine gründliche Bearbeitung, aber er brachte mich aus dem Ödland in sein Haus und stellte mich als sein Werk zur Schau. «Von uns allen wurde der Schleier weggenommen, sodass wir die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel sehen können. Und der Geist des Herrn wirkt in uns, sodass wir ihm immer ähnlicher werden und immer stärker seine Herrlichkeit widerspiegeln» (2. Korinther 3,18 Neues Leben Bibel).
Und genau das ist auch das Werk des Heiligen Geistes. Der Geist Gottes wird Sie in ein himmlisches Meisterwerk verwandeln und für alle sichtbar aufstellen. Rechnen Sie damit, vorher abgeschrubbt, geschmirgelt und ein oder zwei oder zehn Mal gestrichen zu werden. Aber am Ende wird das Ergebnis alle Unannehmlichkeiten wert gewesen sein. Sie werden dankbar sein.
Letzten Endes war meine Mutter das auch. Erinnern Sie sich an die hitzige Diskussion, die meine Eltern wegen des Baumstumpfs hatten? Mein Vater gewann. Er stellte den Baumstumpf ins Wohnzimmer - aber erst nachdem er ihn sauber gemacht, gestrichen und in grossen Buchstaben «Jack und Thelma» hineingeschnitzt hatte sowie die Namen ihrer vier Kinder. Ich kann nicht für meine Geschwister sprechen, aber ich war immer stolz darauf, meinen Namen im Familienstammbaum eines Baumstrunks zu lesen.
von Max Lucado
Dieser Text wurde aus dem Buch «Hör nie auf, neu anzufangen» von Max Lucado entnommen, das von Gerth Medien ©2022 herausgegeben wurde. Max Lucado ist langjähriger Pastor der «Oak Hills Church» in San Antonio, Texas. Verwendung mit Genehmigung.