Wohnt Gott auf der Erde?
In zwei bekannten alten Gospelliedern heisst es: «Auf mich wartet eine noch unbewohnte Wohnung» und «Mein Anwesen liegt gleich hinter dem Berg». Diese Songtexte basieren auf den Worten Jesu: «In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?» (Johannes 14,2).
Diese Verse werden gern bei Beerdigungen zitiert, da mit ihnen das Versprechen verbunden ist, Jesu bereite dem Volk Gottes im Himmel den Lohn, der nach dem Tod auf die Menschen warte. Aber war es das, was Jesus sagen wollte? Es wäre falsch, wenn wir versuchten, jedes Wort von ihm direkt auf unser Leben zu beziehen, ohne zu beachten, was er seinen damaligen Adressaten damit sagen wollte. In der Nacht vor seinem Tod sass Jesus zusammen mit seinen Jüngern im sogenannten Abendmahl-Saal. Die Jünger waren angesichts dessen, was sie sahen und hörten, schockiert. Jesus wusch ihnen die Füsse und verkündete, unter ihnen befände sich ein Verräter. Er erklärte, Petrus werde ihn nicht nur einmal, sondern gleich dreimal verraten. Können Sie sich vorstellen, wie es den Aposteln erging? Er sprach von Leiden, Verrat und Tod. Sie dachten und wünschten sich, er sei der Wegbereiter eines neuen Königreiches und sie würden mit ihm zusammen regieren! Verwirrung, Verzweiflung, enttäuschte Erwartungen, Angst und Emotionen, die auch uns nur allzu vertraut sind. Und dem allem setzte Jesus entgegen: «Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!» (Johannes 14,1). Jesus wollte seine Jünger angesichts des drohend näher rückenden Schreckensszenarios seelisch aufbauen.
Was wollte Jesus mit den Worten «In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen» seinen Jüngern sagen? Die Bezeichnung in meines Vaters Haus nimmt Bezug auf den Tempel in Jerusalem: «Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?» (Lukas 2,49). Der Tempel war an die Stelle der Stiftshütte getreten, jenes transportablen Zelts, das die Israeliten zur Anbetung Gottes nutzten. Im Inneren des Tabernakels (von lat. tabernaculum = Zelt oder Hütte) befand sich – durch einen dicken Vorhang abgetrennt – ein Raum, der das Allerheiligste genannt wurde. Das war die Heimstätte Gottes (Tabernakel heisst im Hebräischen «Mishkan» = Wohnstätte oder Bleibe) inmitten seines Volkes. Einmal im Jahr war es dem Hohepriester alleine vorbehalten, diesen Raum zu betreten, um der Gegenwart Gottes gewahr zu werden. Mit dem Wort Wohnstätte oder auch Wohnraum ist der Ort gemeint, an dem man lebt, aber es war keine feste Bleibe, sondern eine Zwischenstation auf einer Reise, die einen langfristig an einen anderen Ort geführt hatte. Damit wäre dann etwas anderes gemeint, als nach dem Tod bei Gott im Himmel zu sein; denn der Himmel wird oft als letzte und endgültige Bleibe des Menschen betrachtet.
Jesus sprach davon, er werde seinen Jüngern eine Bleibe bereiten. Wohin sollte er gehen? Sein Weg führte ihn nicht geradewegs in den Himmel, um dort Wohnstätten zu errichten, sondern vom Abendmahl-Saal ans Kreuz. Mit seinem Tod und seiner Auferstehung sollte er für die Seinen eine Stätte in seines Vaters Haus bereiten. Es war, als wollte er damit sagen: Alles ist unter Kontrolle. Was geschehen wird, mag schrecklich anmuten, aber es ist alles Teil des Heilsplanes. Sodann verhiess er, er werde wiederkommen. In diesem Zusammenhang scheint er damit nicht auf seine Wiederkunft anzuspielen, obgleich wir Christi Erscheinen in Herrlichkeit am Jüngsten Tag entgegensehen. Wir wissen ja, dass Jesu Weg ihn an das Kreuz führen sollte und dass er drei Tage darauf als vom Tode Auferstandener wiederkehren würde. Ein weiteres Mal kehrte er in Gestalt des Heiligen Geistes am Pfingsttag zurück.
Jesus sagte: «Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf dass auch ihr seid, wo ich bin» (Johannes 14,3). Lassen Sie uns einen Augenblick bei den hier gebrauchten Worten „zu mir nehmen“ verweilen. Sie sind im selben Sinne zu verstehen wie die Worte, die uns verkünden, dass der Sohn (das Wort) bei Gott war: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott» (Johannes 1,1-2).
Die Wahl dieser Worte beschreibt das Verhältnis zwischen Vater und Sohn weist auf deren innige Beziehung zueinander hin. Es geht um eine innige und tiefe Beziehung von Angesicht zu Angesicht. Was aber hat das mit Ihnen und mir heute zu tun? Lassen Sie mich, bevor ich zur Beantwortung dieser Frage komme, kurz noch einmal auf den Tempel eingehen.
Als Jesus starb, riss der Vorhang im Tempel mitten entzwei. Dieser Riss symbolisiert einen neuen Zugang zur Gegenwart Gottes, der sich damit eröffnete. Der Tempel war nicht mehr Gottes Heimstätte auf dieser Erde. Eine völlig neue Beziehung zu Gott stand von nun an jedem einzelnen Menschen offen. Wir haben gelesen: Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen. Im Allerheiligsten war nur Raum für einen Menschen, einmal im Jahr am Versöhnungstag für den Hohenpriester. Jetzt ist es zu einem radikalen Wandel gekommen. Gott hatte in der Tat bei sich, in seinem Haus, Raum für alle Menschen geschaffen! Dies war möglich geworden, weil der Sohn Fleisch geworden war und uns von der zerstörerischen Kraft der Sünde und vom Tod erlöste. Er kehrte zum Vater zurück und zog die ganze Menschheit zu sich in die Gegenwart Gottes: «Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen. Das sagte er aber, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde» (Johannes 12,32-33).
Noch am selben Abend sprach Jesus: «Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen» (Johannes 14,23). Erkennen Sie, was das bedeutet? In diesem Vers lesen wir wieder von Wohnungen. Welche Vorstellungen verbinden Sie mit einem guten Zuhause? Vielleicht: Frieden, Ruhe, Freude, Schutz, Unterweisung, Vergebung, Vorsorge, bedingungslose Liebe, Akzeptanz und Hoffnung, um nur einige wenige zu nennen. Jesus kam nicht nur auf die Erde, um für uns den Sühnetod auf sich zu nehmen. Sondern er kam auch deshalb, um uns an all diesen mit einem guten Zuhause verbundenen Vorstellungen teilhaben und uns jenes Leben erfahren zu lassen, das er mit seinem Vater zusammen mit dem Heiligen Geist führte. Jene unglaubliche, einzigartige und innige Beziehung, die Jesus selbst allein mit seinem Vater verband, steht jetzt auch uns offen: «Ich will euch zu mir nehmen, auf dass auch ihr seid, wo ich bin» (Johannes 14,3). Wo ist Jesus? Jesus ist in des Vaters Schoss in engster Gemeinschaft: «Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoss ist, der hat es verkündigt» (Johannes 1,18).
Es wird sogar ausgedrückt: «Im Schosse von jemandem zu ruhen bedeutet, in seinen Armen zu liegen, von ihm als Ziel innigster Zuwendung und äusserster Zuneigung geschätzt zu werden, oder, wie es so schön heisst, sein Busenfreund zu sein». Genau dort lebt Jesus. Wo sind wir gegenwärtig? Wir haben teil am Himmelreich Jesu: «Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner grossen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr gerettet –; und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus» (Epheser 2,4-6).
Befinden Sie sich gerade in einer schwierigen, entmutigenden oder bedrückenden Lage? Seien Sie gewiss: Jesu Trost spendende Worte richten sich an Sie. So wie er einst seine Jünger bestärken, ermutigen und festigen wollte, so tut er es mit denselben Worten auch Ihnen gegenüber: «Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!» (Johannes 14,1). Lassen Sie sich nicht von Ihren Sorgen niederdrücken, sondern setzen Sie auf Jesus und denken Sie über das, was er sagt – und was er ungesagt lässt –, nach! Er sagt eben nicht, sie müssten tapfer sein, und schon werde sich alles zum Rechten kehren. Er garantiert Ihnen nicht vier Schritte zu Glück und Wohlstand. Er verspricht nicht, er werde Ihnen ein Zuhause im Himmel bereiten, das Sie erst einnehmen könnten, wenn Sie tot sind, und somit sei es all Ihrer Leiden wert. Vielmehr macht er deutlich, dass er den Kreuzestod erlitt, um all unsere Sünden auf sich zu nehmen, sie mit sich selbst am Kreuz festzunageln, damit alles, was uns von Gott und dem Leben in seinem Haus trennen kann, getilgt sei. Der Apostel Paulus erklärt dies so: «Wir sind ja mit Gott durch den Tod seines Sohnes versöhnt worden, als wir noch seine Feinde waren. Dann kann es doch gar nicht anders sein, als dass wir durch Christus jetzt auch Rettung finden werden – jetzt, wo wir versöhnt sind und wo Christus auferstanden ist und lebt» (Römer 5,10 Neue Genfer Übersetzung).
Sie sind durch den Glauben in Liebe in das dreieinige Leben Gottes einbezogen, auf dass Sie an der innigen Gemeinschaft mit dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist – an Gottes Leben – von Angesicht zu Angesicht teilhaben können. Der Herzenswunsch Davids geht für Sie in Erfüllung: «Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar» (Psalm 23,6).
Gott will, dass Sie an ihm und allem, wofür er steht, schon jetzt teilhaben. Er hat Sie erschaffen, damit Sie in seinem Haus jetzt schon und für immer leben.
von Gordon Green