Die Hirtengeschichte

693 die hirtengeschichteEin grosser kräftiger Fremder, etwa 50 Jahre alt, stampfte in das überfüllte Gasthaus und schaute sich um, blinzelte in das rauchige Licht der Öllampen aus Ton, die wahllos im Raum verteilt waren. Abiel und ich rochen ihn, bevor wir ihn sahen. Wir verschoben instinktiv unsere Positionen an unserem kleinen Tisch, um ihn kleiner aussehen zu lassen. Trotzdem kam der Fremde zu uns herüber und fragte: Könntet ihr für mich Platz machen?

Abiel schaute mich fragend an. Wir wollten nicht, dass er sich neben uns setzte. Er sah aus wie ein Schafhirte und roch dem entsprechend. Das Gasthaus war zur Zeit des Passahfestes und der Zeit der ungesäuerten Brote voll. Das Gesetz verlangte, dass Fremde gastfreundlich behandelt werden, auch wenn es sich um einen Hirten handelt.

Abiel bot ihm einen Sitzplatz und einen Schluck aus unserer Weinflasche an. Ich bin Nathan, und das ist Abiel, sagte ich. Woher kommst du, Fremder? Hebron, sagte er und ich heisse Jonathan. Hebron liegt 30 Kilometer südlich von Jerusalem an dem Ort, an dem Abraham vor über 1500 Jahren seine Frau Sarah begrub.

Ich bin kurz vor dem Fest hier her gekommen, fuhr Jonathan fort. Ich kann euch sagen, es wimmelt hier von Soldaten und ich bin froh, wenn ich bald wieder wegkomme. Er ärgerte sich über die Römer und spuckte auf den Boden. Abiel und ich tauschten Blicke aus. Wenn du hier am Passahfest warst, musst du das Erdbeben miterlebt haben, sagte ich.

Jonathan entgegnete, ja, ich habe es aus unmittelbarer Nähe mitbekommen. Leute aus Jerusalem sagten mir, dass sich Gräber öffneten und viele, die gestorben waren, erwachten vom Tod und verliessen ihre Gräber. Abiel ergänzte, zudem wurde der schwere, gewebte Vorhang, der die zwei Haupträume des Tempels voneinander trennte, von oben nach unten, wie durch eine unsichtbare Hand zerrissen. Die Priester halten alle Menschen fern, bis der Schaden behoben ist.

Das macht mir nichts aus, sagte Jonathan. Die Pharisäer und der Tempelwächter lassen Leute wie mich sowieso nicht hinein. Wir sind für sie nicht gut genug, ja sie erachten uns sogar als unrein. Darf ich euch etwas fragen, sagte Jonathan. Hat einer von euch die Kreuzigungen auf Golgatha miterlebt? Wer waren diese drei überhaupt? Abiel warf mir einen Blick zu und beugte sich dann näher an den Schafhirten. Sie haben einen Revolutionär und berüchtigten Räuber namens Barabbas und zwei seiner Leute kurz vor dem Passahfest gefangen genommen. Aber da war auch ein bekannter Rabbi, den sie Jesus nannten. Viele von uns hofften, er sei der Messias. Ein Stirnrunzeln kroch über sein Gesicht. Der Messias, sagte Jonathan? Das würde all die Soldaten erklären, die er gesehen hatte. Aber dieser Jesus ist jetzt tot. Er konnte nicht der Messias sein, oder?

Er war ein guter Mann, sagte Abiel mit leiser Stimme und sah sich im Raum um, als wolle er sich vergewissern, dass niemand unser Gespräch belauschte. Die Pharisäer, die Ältesten und die Hohenpriester haben ihn wegen Gotteslästerung anklagt. Abiel schaute mich an, als ob er mich um Erlaubnis bitten würde, um mehr sagen zu dürfen.

Mach weiter und sag es ihm. Was willst du mir sagen, fragte Jonathan. Abiels Stimme sank auf ein Flüstern. Es hat sich herumgesprochen, dass er, wenn sie ihn töten, wieder ins Leben zurückkehren würde. Hm? Jonathan, beugte sich vor und sagte, erzähl weiter. Abiel fuhr fort, gestern wurde das offene Grab gefunden, obwohl die Römer es mit einem schweren Stein verschlossen und bewacht hatten. Die Leiche war nicht mehr im Grab! Was? Jonathan verengte seine Augen und starrte ausdruckslos auf die Wand hinter mir. Schliesslich fragte er: Wohnte dieser Jesus in Jerusalem? Nein, sagte ich, er kam aus dem Norden, aus Galiläa. Jesus war kein Gotteslästerer, wie die Pharisäer ihn beschuldigten. Alles, was er tat ist das, er zog umher, heilte Menschen und predigte über Liebe und Freundlichkeit. Sicherlich hast du von ihm gehört, sogar da unten in den Hügeln. Aber der Hirte hörte nicht zu. Er starrte ausdruckslos auf die Wand hinter mir. Schliesslich sagte er leise, woher, sagtest du, kommt er? Galiläa, wiederholte ich. Er war der Sohn eines Zimmermanns aus Nazareth. Abiel sah mich an, dann räusperte er sich und sagte: Es heisst, er könnte auch in Bethlehem geboren worden sein und dass seine Mutter eine Jungfrau war. Bethlehem? Bist du dir da ganz sicher? Abiel nickte.

Jonathan schüttelte langsam den Kopf und murmelte, geboren in Bethlehem, von einer Jungfrau. Dann könnte er es gewesen sein. Wer hätte es sein können, fragte ich? Was redest du, wovon redest du? Der Schafhirte schaute bedeutungsvoll auf unsere Weinflasche. Dieser Jesus, ich glaube, ich weiss wer er ist.

Ich erzähle euch eine seltsame Geschichte. Wie ich schon sagte, habe ich die drei Gekreuzigten auf Golgatha gesehen. Der in der Mitte, der war bereits tot und sie waren dabei, die beiden anderen zu erledigen. Einige Frauen schluchzten und weinten unter dem Kreuz. Aber eine andere Frau stand etwas weiter hinten und ein junger Mann hatte seinen Arm um sie gelegt. Als ich vorbeiging, sah sie direkt in meine Augen und ich wusste, dass ich sie schon einmal gesehen hatte. Es ist schon lange her.

Abiel füllte unsere Becher nach und sagte, erzähle uns deine Geschichte. Jonathan trank etwas Wein, dann nahm er das Glas in beide Hände und starrte in sein Glas. Es war in den Tagen von Herodes Antipas, sagte er. Ich war damals noch ein junger Knabe. Unsere Familie war arm. Wir lebten davon, die Schafe reicher Leute zu hüten. Eines Nachts war ich in den Bergen bei Bethlehem mit meinem Vater und mit ein paar seiner Freunde. Es gab eine Volkszählung und alle sollten in ihre Häuser zurückkehren, um gezählt zu werden, damit die Römer herausfinden konnten, wie viel Steuern wir zu zahlen hatten. Mein Vater, mein Onkel und ich und einige unserer Freunde beschlossen, in den Hügeln zu bleiben, bis es vorbei war, so hatten die Römer weniger Köpfe zu zählen. Wir haben alle gelacht. Schafhirten hatten den Ruf Betrüger zu sein. In dieser Nacht hüteten wir die Schafe und sassen um das Feuer herum. Die älteren Männer scherzten und erzählten Geschichten.

Ich fing an, schläfrig zu werden, als plötzlich ein helles Licht um uns herum leuchtete und ein Mann in einem leuchtenden Gewand aus dem Nichts auftauchte. Er leuchtete und glühte, als hätte er ein Feuer in sich. Ein Engel, fragte Abiel? Jonathan nickte. Wir hatten Angst, das kann ich dir sagen. Aber der Engel sagte: Habt keine Angst vor mir! Siehe, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird. Es war eine wunderbare Nachricht für alle.

Abiel und ich gestikulierten ungeduldig, damit er weitererzählte. Der Engel redete weiter: Heute in Bethlehem ist euch der Heiland geboren, welcher ist der Gesalbte, der Herr, in der Stadt Davids. Der Messias, sagte Abiel mit grossen Augen! Wieder nickte Jonathan. Der Engel gab uns die Anweisung, wir sollten hingehen dieses Kind zu sehen, das in Windeln gewickelt und in einer Krippe in Bethlehem liegen würde. Dann war der ganze Himmel voll von Engeln, die sangen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

So plötzlich, wie sie aufgetaucht waren, waren sie auch wieder verschwunden. Wir eilten nach Bethlehem und fanden einen Mann namens Josef und seine Frau Maria mit ihrem Kind in Windeln gewickelt, in einer Krippe im Stall einer Herberge. Die Tiere waren an ein Ende des Stalls gebracht worden und einer der Ställe war ausgeräumt worden. Maria war jung, nicht älter als 15, schätzte ich. Sie sass auf einem Haufen Stroh. Es war alles genau so, wie der Engel uns gesagt hatte.

Mein Vater erzählte Josef von dem Engel und wie er uns aufforderte, wir sollten zu ihnen kommen. Josef sagte, sie seien zur Volkszählung nach Bethlehem gekommen, aber in der Herberge war kein Platz für sie. Das Kind sollte bald auf die Welt kommen, also liess der Besitzer sie den Stall benutzen. Josef erzählte uns, wie ein Engel zu Maria und später zu ihm sagte, dass sie auserwählt worden war, die Mutter des Messias zu sein und dass sie, obwohl sie noch Jungfrau war, mit diesem besonderen Kind von Gott schwanger werden würde.

Maria war schockiert, erzählte Josef, denn sie war immer eine sehr tugendhafte Frau und sie vertraute auf Gott. Josef sah seine Frau an und wir konnten die Liebe und den Respekt in seinen Augen sehen. Ich beobachtete Maria, während die Männer sich unterhielten und ich war erstaunt, wie ruhig sie war. Es war, als ob Gottes Frieden auf ihr ruhen würde. Sie muss erschöpft gewesen sein, aber sie hatte eine geheimnisvolle Schönheit. Ich weiss nicht, wie ich es sonst beschreiben soll, aber ich habe sie nie vergessen.

Jonathan sah Abiel nachdenklich an, dann redete er mit bestimmter Stimme weiter. Es war Maria, die ich bei der Kreuzigung auf Golgatha gesehen habe. Sie war diejenige mit dem jungen Mann, der sie tröstete. Sie ist jetzt viel älter, aber ich weiss, dass sie es war. Also Jesus, begann Abiel, aber Jonathan unterbrach ihn und fragte sich, war das Baby in der Krippe der Retter seines Volkes? Ich dachte, er wäre schon vor Jahren getötet worden, als Herodes befahl, alle Jungen unter zwei Jahren in Bethlehem zu ermorden. Abiel und ich hörten ihm erschrocken zu. Der Herodes hatte von einigen Weisen aus dem Morgenland gehört, dass der Messias geboren werden sollte. Sie waren gekommen, um Jesus zu ehren, aber Herodes sah in ihm einen Rivalen und versuchte, ihn zu töten. Einer meiner Neffen wurde bei diesem Massaker getötet.

Aber du hast mir gesagt, dass dieser Jesus von Nazareth, der Sohn von Josef und Maria, herumging und Wunder tat und die Leute dachten, er sei der Messias. Jetzt haben die Behörden wieder versucht, ihn zu töten. Was meinst du damit, sie haben versucht ihn zu töten, fragte ich? Er wurde gekreuzigt. Er ist tot, begreif das doch endlich! Jonathan entgegnete ihm. Aber sagtest du nicht, die Leiche sei verschwunden? Was willst du damit sagen, fragte Abiel? Nur dies, wenn die Frau, die ich gesehen habe, Maria war und ich bin mir darüber ganz sicher, dass sie es war und der Mann, den sie gekreuzigt haben, war ihr Sohn, den ich in der Nacht seiner Geburt gesehen habe, dann war das nicht an diesem Kreuz zu Ende. Es war keine gewöhnliche Nacht als die Engel für uns sangen und dieser Jesus war kein gewöhnliches Baby. Der Engel sagte uns, er sei der Messias, gekommen, um uns zu retten. Jetzt, obwohl seine Feinde ihn gekreuzigt und begraben haben, ist sein Körper verschwunden.

Der Hirte trank sein Glas aus, stand auf und sagte vor seiner Verabschiedung, ich bin nur ein unwissender Hirte, was weiss ich schon über diese Dinge? Aber ich habe das Gefühl, dass wir diesen Jesus nicht zum letzten Mal gesehen haben.

von John Halford