Der Pastor meiner Gemeinde besuchte neulich ein Treffen der Anonymen Alkoholiker. Nicht weil er selbst süchtig war, sondern weil er von den Erfolgsgeschichten derer gehört hatte, die den 12 Schritte umfassenden Weg in ein suchtfreies Leben gemeistert hatten. Sein Besuch kam aus Neugier und aus dem Wunsch zustande, dieselbe heilende Atmosphäre auch in seiner eigenen Gemeinde zu schaffen.
Mark kam ganz allein zu dem Treffen und wusste nicht, was ihn dort erwarten würde. Als er eintrat, nahm man seine Anwesenheit zur Kenntnis, aber keiner stellte ihm peinliche Fragen. Stattdessen bot ihm jeder herzlich die Hand zum Grusse oder schlug ihm aufmunternd auf den Rücken, als er sich den Anwesenden vorstellte.
Einer der Teilnehmer erhielt an jenem Abend eine Auszeichnung für seine bereits 9 Monate andauernde Abstinenz und als sich dann alle am Podium versammelt hatten, um gemeinsam zu verkünden, dem Alkohol entsagt zu haben, brachen die Anwesenden in Hurrarufe und ohrenbetäubende Beifallsstürme aus. Dann aber ging eine Frau mittleren Alters mit schleppenden Schritten und gesenktem Kopf, die Augen niedergeschlagen, auf das Podium zu. Sie sagte: «Heute sollte ich die 60 Tage meiner bisherigen Abstinenz feiern. Aber gestern habe ich, verflixt noch mal, doch wieder getrunken».
Mark läuft es heiss und kalt den Rücken runter, bei dem Gedanken, was jetzt geschehen würde? Wie viel Schmach und Schande würden angesichts des gerade erst verklungenen Applauses diesen offenbarten Misserfolg begleiten? Für beängstigendes Schweigen war jedoch keine Zeit, denn kaum war der Frau die letzte Silbe über die Lippen gekommen, brandete der Applaus erneut auf, diesmal noch frenetischer als zuvor, erfüllt von aufmunternden Pfiffen und Rufen sowie wohltuenden Bekundungen der Anerkennung.
Mark war so überwältigt, dass er den Raum verlassen musste. Im Auto liess er eine Stunde lang seinen Tränen freien Lauf, ehe er nach Hause fahren konnte. Dabei ging ihm immer wieder die Frage durch den Kopf: «Wie kann ich dies meiner Gemeinde vermitteln? Wie kann ich einen Ort schaffen, an dem Bekenntnisse innerer Zerrüttung und Menschlichkeit mit ebenso enthusiastischen Beifallsbekundungen aufgenommen werden wie Triumph und Erfolg?» Genauso sollte Kirche aussehen!
Warum gleicht die Kirche vielmehr einem Ort, an dem wir adrett gekleidet und mit glücklichem Gesichtsausdruck die Schattenseiten unseres Ich aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit verbannen? In der Hoffnung, dass keiner, der unser wahres Ich kennt, uns mit aufrichtig gemeinten Fragen in die Enge treibt? Jesus sagte, die Kranken bedürften eines Ortes, an dem sie gesunden können – wir aber haben einen an die Erfüllung bestimmter Aufnahmekriterien geknüpften Gesellschaftsclub geschaffen. Wir können uns scheinbar beim besten Willen nicht vorstellen, gleichzeitig am Boden zerstört und dennoch ganz und gar liebenswert zu sein. Vielleicht liegt darin das Geheimnis der Anonymen Alkoholiker. Jeder Teilnehmer war einmal am Tiefpunkt angelangt und gesteht dies auch ein und ein jeder hat auch einen Ort gefunden, an dem er «trotzdem» geliebt wird, und diesen Ort für sich angenommen.
Bei vielen Christen ist das anders. Irgendwie sind viele von uns zu der Überzeugung gelangt, nur ohne jeden Makel liebenswert zu sein. Wir führen unser Leben, so gut wir können und lassen andere und uns selbst die Knute spüren, wenn es unweigerlich auch zu Misserfolgen kommt. Leider können wir uns mit dieser Suche nach moralischer Überlegenheit geistlich grössere Probleme einhandeln als damit, einmal ganz unten am Tiefpunkt angelangt zu sein.
Brennan Manning schreibt dazu: «Paradoxerweise sind es gerade unser überzogener moralischer Anspruch, sowie unsere Pseudofrömmigkeit, die sich wie ein Keil zwischen Gott und uns Menschen zwängen. Nicht den Prostituierten oder den Steuereintreibern fällt es am schwersten, Reue zu zeigen; es sind gerade die Glaubenseifrigen, die meinen, keine Reue zeigen zu müssen. Jesus starb nicht durch die Hand von Strassenräubern, Vergewaltigern oder Schlägertypen. Er fiel den tief religiösen Menschen, den angesehensten Mitgliedern der Gesellschaft in die sauber geschrubbten Hände» (Abba’s Child Abbas Kind, S. 80).
Rüttelt Sie das ein wenig auf? Ich jedenfalls hatte schon arg daran zu schlucken und muss mir wohl oder übel eingestehen, dass auch in mir Pharisäertum schlummert. Obwohl mich ihre von Vorurteilen getragene Haltung, der wir im ganzen Evangelium begegnen, mit Empörung erfüllt, tue ich es ihnen gleich, indem ich über die Gestrauchelten hinweggehe und den Rechtschaffenen mit Ehrerbietung begegne. Ich lasse mich hinsichtlich derer, denen Gott Liebe entgegenbringt, durch meine Abneigung gegenüber der Sünde blenden.
Die Jünger Jesu waren Sünder. Viele von ihnen hatten durchaus eine, was man so gern «eine Vergangenheit» nennt. Jesus nannte sie seine Brüder. Viele wussten auch, wie es war, wenn man am Tiefpunkt angelangt war. Und genau an dem Punkt stiessen sie auf Jesus.
Ich will nicht länger erhaben über jenen stehen, die in der Finsternis wandeln. Ebenso wenig will ich ihnen nutzlose Floskeln nach dem Motto «Ich habe es Ihnen gleich gesagt» entgegenhalten, während ich selbst die eigenen dunklen Seiten meines Daseins ausblende. Ich will viel mehr mich von Gott ergreifen lassen und durch Jesus Christus den verlorenen Sohn genauso mit offenen Armen entgegentreten, wie er es gegenüber dem folgsamen tat. Er liebt beide gleichermassen. Bei den Anonymen Alkoholikern hat man das bereits begriffen.
von Susan Reedy