Ich nehme an, dass ich meine Tochter sehr gut kenne. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht und das haben wir auch genossen. Wenn ich zu ihr sage, dass ich sie verstehe, entgegnet sie mir: «Du kennst mich nicht haargenau!» Dann sage ich zu ihr, dass ich sie sehr wohl haargenau kenne, da ich ihre Mutter bin. Das hat mich nachdenklich gestimmt: Wir kennen andere Menschen nicht wirklich gut – und sie uns auch nicht, nicht im tiefsten Inneren. Wir richten oder beurteilen andere leicht danach, wie wir sie zu kennen meinen, aber berücksichtigen gar nicht, dass sie ja auch gewachsen sind und sich verändert haben. Wir packen Menschen in Kisten und wissen scheinbar genau, welche Wände und Ecken sie umgeben.
Das Gleiche tun wir auch mit Gott. Nähe und Vertrautheit verleiten zu Kritik und Selbstgerechtigkeit. Genauso, wie wir die Menschen oft danach behandeln, wie wir ihr Tun – eben unseren Erwartungen entsprechend – einschätzen, so begegnen wir auch Gott. Wir nehmen an, dass wir wüssten, wie er unsere Gebete beantworten wird, wie er Menschen behandelt und wie er denkt. Wir tendieren dazu, uns unser eigenes Bild von ihm zu machen, stellen uns vor, er sei wie wir. Wenn wir das tun, kennen wir ihn nicht haargenau. Wir kennen ihn überhaupt nicht.
Paulus sagt, dass er nur Fragmente eines Bildes sieht und deshalb das ganze Bild nicht erkennen kann: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin (1. Korinther 13,12). Diese wenigen Worte sagen viel aus. Zum Ersten: Wir werden ihn eines Tages so kennen, wie er uns jetzt schon kennt. Wir verstehen Gott nicht, und das ist sicherlich gut so. Könnten wir es ertragen, alles über ihn zu wissen, so wie wir jetzt als Menschen sind – mit unseren bescheidenen menschlichen Vermögen? Gegenwärtig ist Gott für uns noch unbegreiflich. Und zum Zweiten: Er kennt uns bis ins Innerste, ja bis zu jenem geheimen Ort, wo keiner hinsehen kann. Er weiss, was in uns vor sich geht – und warum uns etwas auf unsere je einzigartige Weise bewegt. David spricht davon, wie gut Gott ihn kennt: „Ich sitze oder stehe auf, so weisst du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen“ (Psalm 139,2-6). Ich bin mir sicher, dass wir diese Verse auch auf uns anwenden können. Bereitet das Ihnen Angst? – Das sollte es nicht! Gott ist nicht so wie wir. Wir kehren uns manchmal von Menschen ab, je mehr wir sie kennen gelernt haben, aber das tut er nie. Jeder möchte verstanden werden, möchte gehört und wahrgenommen werden. Ich denke, das ist der Grund, warum so viele Menschen etwas in Facebook oder anderen Portalen schreiben. Jeder Mensch hat etwas zu sagen, ob ihm jemand zuhört oder nicht. Wer etwas in Facebook schreibt, macht es sich leicht; denn da kann er sich so darstellen, wie es ihm gefällt. Aber das wird nie die Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht ersetzen. Jemand kann zwar eine Seite im Internet haben, die sehr oft aufgerufen wird, aber er kann trotzdem einsam und traurig sein.
In einer Beziehung mit Gott zu leben, macht uns dessen gewiss, dass wir gehört, wahrgenommen, verstanden und erkannt werden. Er ist der Einzige, der Ihnen ins Herz sehen kann und alles weiss, was Sie je gedacht haben. Und das Wunderbare daran ist, dass er Sie trotzdem liebt. Wenn die Welt kalt und unpersönlich zu sein scheint und Sie sich einsam und missverstanden fühlen, können Sie Kraft aus der Gewissheit schöpfen, dass wenigstens einer da ist, der Sie haargenau kennt.
von Tammy Tkach