„Können Sie das lesen?“ fragte mich der Tourist, indem er auf einen grossen silbernen Stern mit einer lateinischen Inschrift zeigte: „Hic de virgine Maria Jesus Christus natus est.“ „Ich werde es versuchen“, antwortete ich und versuchte eine Übersetzung, indem ich die volle Kraft meines mageren Lateins hervorbrachte: „Hier wurde Jesus von der Jungfrau Maria geboren.“ „Nun, was glauben Sie?“, fragte der Mann. „Glauben Sie das?“
Es war mein erster Besuch im Heiligen Land und ich stand in der Grotte der Geburtskirche in Bethlehem. Die festungsähnliche Kirche der Geburt Christi ist über dieser Grotte oder Höhle gebaut, wo nach der Tradition Jesus Christus geboren wurde. Ein Silberstern, der in den Marmorboden eingesetzt ist, soll den genauen Punkt markieren, wo die göttliche Geburt stattfand. Ich antwortete: „Ja, ich glaube, dass Jesus auf wunderbare Weise [im Schoss der Maria] empfangen wurde“, aber ich zweifelte, ob der Silberstern den genauen Ort seiner Geburt markierte. Der Mann, ein Agnostiker, vertrat die Meinung, dass Jesus wahrscheinlich unehelich geboren wurde, und dass die Berichte in den Evangelien über die Jungfrauengeburt Versuche waren, diese peinliche Tatsache zu vertuschen. Die Verfasser der Evangelien, so spekulierte er, haben das Thema der übernatürlichen Geburt einfach von der antiken heidnischen Mythologie geborgt. Später, als wir auf der gepflasterten Fläche des Krippenplatzes ausserhalb der antiken Kirche herumspazierten, diskutierten wir das Thema tiefer.
Ich erklärte, dass der Begriff „Jungfrauengeburt“ auf die ursprüngliche Empfängnis Jesu verweist; das heisst, der Glaube, dass Jesus in Maria durch ein wunderbares Wirken des Heiligen Geistes, ohne Einwirkung eines menschlichen Vaters empfangen wurde. Die Doktrin, dass Maria der alleinige natürliche Elternteil von Jesus war, wird in zwei Passagen des Neuen Testaments klar gelehrt: Matthäus 1,18-25 und Lukas 1,26-38. Sie beschreiben Jesu übernatürliche Empfängnis als eine historische Tatsache. Matthäus erzählt uns:
„Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut [verlobt] war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist… Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht : «Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben», das heisst übersetzt: Gott mit uns“ (Matthäus 1,18. 22-23).
Lukas schildert die Reaktion Marias auf die Ankündigung des Engels von der Jungfrauengeburt: „Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann weiss? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden“ (Lukas 1,34-35).
Jeder Verfasser behandelt die Geschichte unterschiedlich. Das Matthäusevangelium wurde für eine jüdische Leserschaft geschrieben und befasste sich mit der Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen des Messias. Lukas, ein Heidenchrist, hatte beim Schreiben die griechische und römische Welt im Sinn. Er hatte eine mehr kosmopolitische Zuhörerschaft – Christen heidnischen Ursprungs, die ausserhalb von Palästina lebten.
Beachten wir nochmals den Bericht des Matthäus: „Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut [verlobt] war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist“ (Matthäus 1,18). Matthäus erzählt die Geschichte aus der Sichtweise Josefs. Josef erwog, die Verlobung heimlich aufzulösen. Aber ein Engel erschien Josef und versicherte ihm: „Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist“ (Matthäus 1,20). Josef akzeptierte den göttlichen Plan.
Als Beweis für seine jüdischen Leser, dass Jesus ihr Messias war, fügt Matthäus hinzu: „Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht : «Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben», das heisst übersetzt: Gott mit uns“ (Matthäus 1,22-23). Dies verweist auf Jesaja 7,14.
Mit seiner charakteristischen Aufmerksamkeit für die Rolle der Frauen erzählt Lukas die Geschichte aus dem Blickwinkel der Maria. Im Bericht des Lukas lesen wir, dass Gott den Engel Gabriel zu Maria in Nazareth sandte. Gabriel sagte zu ihr: „Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben“ (Lukas 1,30-31).
Wie soll das zugehen, fragte Maria, da sie eine Jungfrau war? Gabriel erklärte ihr, dass dies keine normale Empfängnis sein würde: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden“ (Lukas 1,35).
Auch wenn ihre Schwangerschaft sicherlich missverstanden und ihren Ruf aufs Spiel setzen würde, nahm Maria mutig die ausserordentliche Situation an: „Siehe, ich bin des Herrn Magd“ rief sie aus. „Mir geschehe, wie du gesagt hast“ (Lukas 1,38). Durch ein Wunder, betrat der Sohn Gottes Raum und Zeit und wurde ein menschlicher Embryo.
Jene, die an die Jungfrauengeburt glauben, akzeptieren gewöhnlich, dass Jesus für unser Heil Mensch wurde. Jene Menschen, die die Jungfrauengeburt nicht akzeptieren, neigen dazu, Jesus von Nazareth als menschliches Wesen zu verstehen – und nur als menschliches Wesen. Die Doktrin der Jungfrauengeburt ist direkt mit der Doktrin der Inkarnation verwandt, obwohl sie nicht identisch ist. Die Inkarnation (Menschwerdung, wörtlich „Verkörperung“) ist die Doktrin, die bekräftigt, dass der ewige Sohn Gottes zu seiner Göttlichkeit menschliches Fleisch hinzufügte und ein Mensch wurde. Dieser Glaube findet seinen deutlichsten Ausdruck im Prolog des Johannesevangeliums: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Johannes 1,14).
Die Doktrin der Jungfrauengeburt besagt, dass die Empfängnis [Zeugung] Jesus auf wunderbare Weise geschah, indem er keinen menschlichen Vater hatte. Die Menschwerdung besagt, dass Gott Fleisch [Mensch] wurde; die Jungfrauengeburt erzählt uns das Wie. Die Inkarnation war ein übernatürliches Ereignis und schloss eine spezielle Art der Geburt mit ein. Wenn das Kind, das geboren werden sollte, nur menschlich wäre, hätte es keine Notwendigkeit für eine übernatürliche Empfängnis gegeben. Der erste Mensch, Adam, z.B., wurde ebenfalls auf wunderbare Weise von der Hand Gottes gemacht. Er hatte weder Vater, noch Mutter. Aber Adam war nicht Gott. Gott entschied sich, mittels einer übernatürlichen Jungfrauengeburt in die Menschlichkeit einzutreten.
Wie wir gesehen haben, ist der Wortlaut der Abschnitte bei Matthäus und Lukas klar: Maria war eine Jungfrau, als Jesus in ihrem Leibe vom Heiligen Geist empfangen wurde. Es war ein Wunder Gottes. Aber mit dem Aufkommen der liberalen Theologie – mit ihrem generellen Argwohn gegen alles Übernatürliche – wurden diese biblischen Aussagen aus einer Vielfalt von Gründen in Frage gestellt. Einer davon ist der angeblich späte Ursprung der Berichte über Jesu Geburt. Diese Theorie argumentiert, dass, als sich der frühe christliche Glauben etablierte, Christen anfingen, der wesentlichen Geschichte von Jesu Leben fiktive Elemente hinzuzufügen. Die Jungfrauengeburt, so wird behauptet, war einfach ihre phantasievolle Art auszudrücken, dass Jesus Gottes Geschenk an die Menschheit war.
Das Jesus-Seminar, eine Gruppe liberaler Bibelgelehrten, die über die Worte Jesu und der Evangelisten abstimmen, vertritt diese Ansicht. Diese Theologen weisen den biblischen Bericht von der übernatürlichen Empfängnis und Geburt Jesu zurück, indem sie diesen als „spätere Schöpfung“ bezeichnen. Maria, so folgern sie, muss sexuelle Beziehungen mit Josef oder einem anderen Mann gehabt haben.
Haben sich die Verfasser des Neuen Testaments auf Mythen eingelassen, indem sie Jesus Christus bewusst grösser machten? War er bloss ein „menschlicher Prophet“, ein „gewöhnlicher Mensch seiner Zeit“, der später von gutgläubigen Nachfolgern mit einer übernatürlichen Aura geschmückt wurde, um „ihr Christologisches Dogma zu stützen“?
Solche Theorien sind unmöglich aufrechtzuerhalten. Die zwei Geburtsberichte bei Matthäus und Lukas – mit ihrem unterschiedlichen Inhalt und Perspektiven – sind voneinander unabhängig. Das Wunder von Jesu Empfängnis ist in der Tat der einzige gemeinsame Punkt zwischen ihnen. Dies weist darauf hin, dass die Jungfrauengeburt auf einer früheren, bekannten Tradition, nicht auf einer späteren theologischen Erweiterung oder doktrinären Entwicklung basiert.
Trotz seiner breiten Akzeptanz durch die frühe Kirche, ist die Jungfrauengeburt für viele – sogar für einige Christen ein schwieriges Konzept in unserer modernen Kultur. Die Vorstellung von einer übernatürlichen Empfängnis, so meinen viele, riecht nach Aberglauben. Sie behaupten, dass die Jungfrauengeburt eine unbedeutende Doktrin am Rande des Neuen Testaments ist, die für die Botschaft des Evangeliums wenig Bedeutung hat.
Die Zurückweisung des Übernatürlichen durch Skeptiker steht im Einklang mit einer rationalistischen und humanistischen Weltanschauung. Aber für einen Christen bedeutet die Eliminierung des Übernatürlichen von der Geburt Jesu Christi ihren göttlichen Ursprung und ihre fundamentale Bedeutung zu kompromittieren. Warum die Jungfrauengeburt zurückweisen, wenn wir an die Göttlichkeit Jesu Christi und an seine Auferstehung von den Toten glauben? Wenn wir einen übernatürlichen Ausgang [Auferstehung und Himmelfahrt] zulassen, warum nicht einen übernatürlichen Eintritt in die Welt? Das Kompromittieren oder die Leugnung der Jungfrauengeburt beraubt andere Doktrinen ihres Wertes und ihrer Bedeutung. Uns bleibt kein Fundament oder keine Autorität mehr für das, was wir als Christen glauben.
Gott involviert sich selber in der Welt, er interveniert auf aktive Weise in menschliche Affären, setzt, falls notwendig, Naturgesetze ausser Kraft, um seinen Zweck zu erreichen – und er wurde mittels einer Jungfrauengeburt Fleisch [Mensch]. Als Gott in der Person von Jesus in das menschliche Fleisch kam, hat er seine Göttlichkeit nicht aufgegeben, sondern hat vielmehr Menschlichkeit zu seiner Göttlichkeit hinzugefügt. Er war beides, ganz Gott und ganz Mensch (Philipper 2,6-8; Kolosser 1,15-20; Hebräer 1,8-9).
Jesu übernatürlicher Ursprung hebt ihn vom Rest der Menschheit ab. Seine Empfängnis war eine von Gott bestimmte Ausnahme gegenüber den Naturgesetzen. Die Jungfrauengeburt zeigt das Ausmass, zu dem der Sohn Gottes zu gehen bereit war, um unser Erlöser zu werden. Es war eine erstaunliche Demonstration von Gottes Gnade und Liebe (Johannes 3,16) bei der Erfüllung seiner Heilsverheissung.
Der Sohn Gottes wurde einer von uns, um uns zu retten, indem er die Natur der Menschlichkeit annahm, damit er für uns sterben konnte. Er kam ins Fleisch, damit diejenigen, die an ihn glauben, erlöst, versöhnt und gerettet werden können (1. Timotheus 1,15). Nur Einer, der Gott als auch Mensch war, konnte den ungeheuren Preis für die Sünden der Menschheit bezahlen.
Wie Paulus erklärt: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen (Galater 4,4-5). Jenen, die Jesus Christus annehmen und an seinen Namen glauben, bietet Gott das wertvolle Geschenk des Heils an. Er bietet uns eine persönliche Beziehung mit ihm an. Wir können Söhne und Töchter Gottes werden – „Kinder, die nicht aus dem Blut, noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes, sondern von Gott geboren sind“ (Johannes 1,13).
Keith Stump