Gegen Ende seines Evangeliums sind diese faszinierenden Kommentare des Apostels Johannes zu lesen: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch ... Wenn aber eins nach dem andern aufgeschrieben werden sollte, so würde, meine ich, die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären“ (Johannes 20,30; 21,25). Basierend auf diesen Anmerkungen und unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den vier Evangelien ist daraus zu schliessen, dass die angesprochenen Darstellungen nicht als vollständige Nachzeichnungen von Jesu Leben verfasst wurden. Johannes führt aus, seine Schriften seien dazu bestimmt, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen“ (Johannes 20,31). Hauptaugenmerk der Evangelien ist es, die gute Botschaft über den Heiland und die uns in ihm gewährte Erlösung zu verkünden.
Obwohl Johannes in Vers 31 die Erlösung (das Leben) mit Jesu Namen verknüpft sieht, sprechen Christen davon, durch Jesu Tod errettet zu sein. Diese prägnante Aussage ist zwar so weit korrekt, aber der alleinige Bezug der Erlösung auf Jesu Tod kann uns den Blick auf die Fülle dessen verstellen, wer er ist und was er für unsere Errettung getan hat. Die Ereignisse der Karwoche rufen uns in Erinnerung, dass Jesu Tod — von so entscheidender Bedeutung er auch ist — in einem grösseren Zusammenhang eingebunden, zu betrachten ist, der die Menschwerdung unseres Herrn, seinen Tod, seine Auferstehung und Himmelfahrt einschliesst. Sie alle sind wesentliche, untrennbar miteinander verwobene Meilensteine seines Erlösungswerks — jenes Werks, das uns Leben in seinem Namen schenkt. So wollen wir während der Karwoche, ebenso wie im ganzen übrigen Jahr, in Jesus das vollkommene Erlösungswerk sehen.
Jesu Geburt war nicht die alltägliche Geburt eines gewöhnlichen Menschen. Als in jeder Hinsicht einzigartig, verkörpert sie den Anfang der Menschwerdung Gottes selbst. Mit Jesu Geburt kam Gott als Mensch in gleicher Weise zu uns, wie alle Menschen seit Adam geboren wurden. Obwohl er blieb, was er war, nahm der ewige Sohn Gottes menschliches Leben in seiner ganzen Ausprägung an — von Anfang bis Ende, von der Geburt bis zum Tod. Als eine Person ist er ganz Gott und ganz Mensch. In dieser überwältigenden Aussage finden wir eine ewig geltende Bedeutung, die eine ebenso ewig währende Würdigung verdient.
Mit seiner Menschwerdung trat der ewige Sohn Gottes aus der Ewigkeit heraus und als Mensch aus Fleisch und Blut in seine, von Zeit und Raum beherrschte Schöpfung ein. „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Johannes 1,14). Jesus war in der Tat ein echter Mensch in seiner ganzen Menschlichkeit, gleichzeitig war er aber auch ganz Gott — wesensgleich mit dem Vater und dem Heiligen Geist. Seine Geburt erfüllt viele Prophezeiungen und verkörpert die Verheissung unserer Erlösung.
Die Menschwerdung endete nicht mit Jesu Geburt — sie setzte sich über sein ganzes Erdenleben hinaus fort und findet heute mit seinem verherrlichten menschlichen Leben ihre weitere Verwirklichung. Der inkarnierte (d.h. Fleisch gewordene) Sohn Gottes bleibt wesensgleich mit dem Vater und dem Heiligen Geist — seine göttliche Natur ist uneingeschränkt gegenwärtig und allmächtig am Wirken, was seinem Leben als Mensch eine einzigartige Bedeutung verleiht. So heisst es im Römerbrief 8,3-4: „Denn was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit, vom Gesetz gefordert, in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleisch leben, sondern nach dem Geist“- Paulus erläutert des Weiteren, dass „wir selig werden durch sein Leben“ (Römer 5,10).
Leben und Wirken Jesu sind untrennbar miteinander verwoben — beide sind Teil der Inkarnation. Der Gott-Mensch Jesus ist der vollkommene Hohepriester und Mittler zwischen Gott und den Menschen. Er wurde der menschlichen Natur teilhaftig und liess der Menschheit Gerechtigkeit widerfahren, indem er ein sündenloses Leben führte. Dieser Umstand lässt uns begreifen, wie er eine Beziehung, sowohl mit Gott, als auch mit den Menschen, zu pflegen vermag. Während wir gewöhnlich an Weihnachten seine Geburt feiern, sind die Ereignisse seines ganzen Lebens stets Teil unseres allumfänglichen Lobpreises — auch in der Karwoche. Sein Leben offenbart den Beziehungscharakter unserer Erlösung. Jesus brachte, in Gestalt seiner selbst, Gott und die Menschheit in einer vollkommenen Beziehung zusammen.
Einige verleitet die Kurzaussage, wir seien durch Jesu Tod errettet, zur misslichen Fehlvorstellung, sein Tod sei ein Sühneopfer gewesen, das Gott zur Gnade veranlasste. Ich bete darum, dass wir alle den Trugschluss dieses Gedankens erkennen.
T.F. Torrance schreibt, dass wir in Jesu Tod vor dem Hintergrund eines rechten Verständnisses der alttestamentlichen Opfer keine heidnische Opfergabe um der Vergebung willen erkennen, sondern das kraftvolle Zeugnis des Willens eines gnädigen Gottes (Atonement: The Person and Work of Christ [dt.: Sühne: Person und Wirken Christi], S. 38-39). Heidnische Opferriten basierten auf dem Prinzip der Vergeltung, Israels Opfersystem hingegen auf dem der Vergebung und Versöhnung. Statt sich mithilfe von Opfergaben gleichsam Vergebung zu verdienen, sahen sich die Israeliten von Gott in den Stand versetzt, ihrer Sünden freigesprochen und damit mit ihm versöhnt zu sein.
Israels Opfergebaren waren darauf ausgelegt, Gottes Liebe und Gnade mit dem Hinweis auf die Bestimmung von Jesu Tod zu bezeugen und offenbar werden zu lassen, die in der Aussöhnung mit dem Vater gegeben ist. Mit seinem Tod besiegte unser Herr zudem Satan und nahm dem Tod selbst die Macht: „Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er’s gleichermassen angenommen, damit er durch seinen Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel, und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten“ (Hebräer 2,14-15). Paulus fügte dem hinzu, dass Jesus „herrschen [muss], bis Gott ihm alle Feinde unter seine Füsse legt. Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod“ (1. Korinther 15,25-26). Jesu Tod manifestiert den sühnenden Aspekt unserer Erlösung.
Am Ostersonntag feiern wir Jesu Auferstehung, mit der sich viele Prophezeiungen des Alten Testaments erfüllen. Der Verfasser des Hebräerbriefs weist darauf hin, Isaaks Errettung vor dem Tod, widerspiegle die Auferstehung (Hebräer 11,18-19). Aus dem Buch Jona erfahren wir, dass dieser „drei Tage und drei Nächte“ im Leib des grossen Fisches war (Jon 2, 1). Jesus nahm auf jene Begebenheit hinsichtlich seines Todes, seiner Grablegung und Auferstehung Bezug (Matthäus 12,39-40); Matthäus 16,4 und 21; Johannes 2,18-22).
Wir feiern Jesu Auferstehung mit grosser Freude, weil sie uns in Erinnerung ruft, der Tod ist nicht endgültig. Vielmehr stellt er einen Zwischenschritt auf unserem Weg in die Zukunft dar — das ewige Leben in Gemeinschaft mit Gott. Zu Ostern feiern wir Jesu Sieg über den Tod und das neue Leben, das wir in ihm haben werden. Voller Freude sehen wir der Zeit entgegen, von der in der Offenbarung 21,4 die Rede ist: „[...] und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ Die Auferstehung steht für die Hoffnung auf unsere Erlösung.
Jesu Geburt mündete in sein Leben und sein Leben wiederum in seinen Tod. Wir können jedoch seinen Tod nicht von seiner Auferstehung trennen und ebenso wenig seine Auferstehung von seiner Himmelfahrt. Er entstieg dem Grab nicht, um ein Leben in Menschengestalt zu führen. In verherrlichter Menschennatur fuhr er zum Vater in den Himmel auf, und erst mit jenem grossartigen Ereignis endete das von ihm begonnene Wirken.
In der Einleitung zu Torrances‘ Buch Atonement schrieb Robert Walker: „Mit der Auferstehung nimmt Jesus unsere Wesenheit als Mensch in sich auf und führt sie der Gegenwart Gottes in Einheit und Gemeinschaft der trinitarischen Liebe zu.“ C.S. Lewis drückte es so aus: „In der Christengeschichte steigt Gott hinab, um dann wieder aufzufahren.“ Die wunderbare gute Botschaft kündet davon, dass Jesus uns mit sich emporhob. „...und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus“ (Epheser 2,6-7).
Menschwerdung, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt — sie alle sind Teil unserer Erlösung und damit unseres Lobpreises in der Karwoche. Diese Meilensteine verweisen auf alles, was Jesus für uns mit seinem ganzen Leben und Wirken vollbracht hat. Lassen Sie uns, das ganze Jahr über, mehr und mehr erkennen, wer er ist und was er für uns getan hat. Er steht für das vollkommene Erlösungswerk.
von Josep Tkack