Wichtig zur Vermeidung von Fehldeutungen ist zunächst einmal, Matthäus 24 im grösseren Zusammenhang (Kontext) der vorangegangenen Kapitel zu sehen. Vielleicht überrascht es Sie zu erfahren, dass die Vorgeschichte von Matthäus 24 spätestens schon im 16. Kapitel, Vers 21, beginnt. Dort heisst es summarisch: „Seit der Zeit fing Jesus an, seinen Jüngern zu zeigen, wie er nach Jerusalem gehen und viel leiden müsse von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage auferstehen.“ Damit gibt Jesus erste Fingerzeige auf etwas, das in den Augen der Jünger wie eine elementare Kraftprobe zwischen Jesus und der religiösen Obrigkeit in Jerusalem aussah. Auf dem Weg nach Jerusalem (20,17-19) bereitet er sie weiter auf diesen bevorstehenden Konflikt vor.
In der Zeit der ersten Leidensankündigungen nahm Jesus die drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes mit auf einen hohen Berg. Dort erlebten sie die Verklärung (17,1-13). Dadurch allein müssen die Jünger sich schon gefragt haben, ob die Errichtung des Gottesreichs nicht vielleicht nahe bevorstehe (17,10-12).
Weiter kündigt Jesus den Jüngern an, sie würden auf zwölf Thronen sitzen und Israel richten, „wenn der Menschensohn sitzen wird auf dem Thron seiner Herrlichkeit“ (19,28). Kein Zweifel, dies weckte neuerlich Fragen zum „Wann“ und „Wie“ des Kommens des Gottesreiches. Jesu Rede vom Reich bewog die Mutter des Jakobus und des Johannes sogar, Jesus zu bitten, ihren beiden Söhnen besondere Positionen im Reich zu geben (20,20-21).
Dann kam der triumphale Einzug in Jerusalem, bei dem Jesus auf einem Esel in die Stadt einritt (21,1-11). Dadurch, so Matthäus, habe sich eine Prophezeiung des Sacharja erfüllt, die man auf den Messias bezogen sah. Die ganze Stadt war auf den Beinen und fragte sich, was geschehen würde, wenn Jesus eintraf. In Jerusalem warf er die Tische der Geldwechsler um und erwies durch weitere Taten und durch Wunder seine messianische Vollmacht (21,12-27). „Wer ist der?“ fragten sich die Menschen verwundert (21,10).
Dann erklärt Jesus in 21,43 den Hohenpriestern und Ältesten: „Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt.“ Seine Zuhörer wussten, dass er von ihnen sprach. Dieser Ausspruch Jesu konnte als Indiz genommen werden, dass er im Begriff war, sein messianisches Reich zu errichten, dass aber das religiöse „Establishment“ daraus ausgeschlossen bleiben sollte.
Die Jünger, die das hörten, müssen sich gefragt haben, was nun bevorstand. Wollte Jesus sich jetzt unmittelbar zum Messias ausrufen? War er im Begriff, gegen die römische Obrigkeit anzugehen? Stand er kurz davor, das Gottesreich zu bringen? Würde es Krieg geben, und was würde mit Jerusalem und dem Tempel geschehen?
Nun kommen wir zu Matthäus 22, Vers 15. Hier beginnt die Szene mit den Pharisäern, die Jesus mit Fragen nach der Steuer in die Falle locken wollen. Mit seinen Antworten wollten sie ihn als Rebell gegen die römische Obrigkeit hinstellen. Doch Jesus antwortete klug abwägend, und ihr Plan wurde durchkreuzt.
Am selben Tag hatten auch die Sadduzäer eine Auseinandersetzung mit Jesus (22,23-32). Sie glaubten nicht an die Auferstehung und stellten ihm ebenfalls eine Fangfrage, über sieben Brüder, die nacheinander dieselbe Frau heiraten. Wessen Frau sollte sie in der Auferstehung sein? Jesus antwortete indirekt und sagte, sie verstünden ihre eigene Schrift nicht. Er verwirrte sie durch die Aussage, im Reich gäbe es keine Ehe mehr.
Dann schliesslich stellten Pharisäer und Sadduzäer ihm gemeinsam eine Frage nach dem höchsten Gebot im Gesetz (22,36). Er antwortete klug durch Zitieren von 3. Mose 19,18 und 5. Mose 6,5. Und konterte seinerseits mit einer Fangfrage: Wessen Sohn sollte der Messias sein (22,42)? Da mussten sie schweigen; „niemand konnte ihm ein Wort antworten, auch wagte niemand von dem Tage an, ihn hinfort zu fragen“ (22,46).
Kapitel 23 zeigt Jesu Polemik gegen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Gegen Ende des Kapitels kündigt Jesus an, ihnen „Propheten und Weise und Schriftgelehrte“ zu schicken, und sagt voraus, sie würden sie töten, kreuzigen, geisseln und verfolgen. Die Verantwortung für alle getöteten Propheten legt er auf ihre Schultern. Offensichtlich steigt die Spannung, und die Jünger müssen sich gefragt haben, welche Bedeutung diese Konfrontationen haben mochten. War Jesus im Begriff, als Messias die Macht zu ergreifen?
Dann spricht Jesus im Gebet Jerusalem an und prophezeit, ihr Haus werde „wüst gelassen werden“. Daran schliesst sich die rätselhafte Bemerkung an: „Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ (23,38-39.) Immer stärker müssen die Jünger gerätselt und sich bange Fragen gestellt haben zu den Dingen, die Jesus sagte. Stand er davor, sich zu erklären?
Danach verliess Jesus den Tempel. Beim Hinausgehen deuteten seine atemlosen Jünger auf die Tempelbauten. Bei Markus sagen sie: „Meister, siehe, was für Steine und was für Bauten!“ (13,1). Lukas schreibt, die Jünger hätten staunend von seinen „schönen Steinen und Kleinodien“ gesprochen (21,5).
Man bedenke, was im Herzen der Jünger vorgegangen sein muss. Jesu Äusserungen über die Verwüstung Jerusalems und seine Konfrontationen mit der religiösen Obrigkeit ängstigten und erregten die Jünger. Sie müssen sich gefragt haben, wieso er vom bevorstehenden Untergang des Judaismus und seiner Institutionen sprach. Sollte der Messias nicht kommen, um beides zu stärken? Aus den Worten der Jünger über den Tempel klingt indirekt die Sorge: Es soll doch nicht etwa auch diesem mächtigen Gotteshaus ein Schaden geschehen?
Jesus durchkreuzt ihre Hoffnung und vertieft ihre bangen Ahnungen noch. Er wischt ihren Lobpreis des Tempels beiseite: „Seht ihr nicht das alles? Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde“ (24,2). Dies muss den Jüngern einen tiefen Schock versetzt haben. Sie glaubten, der Messias werde Jerusalem und den Tempel retten, nicht zerstören. Wenn Jesus von diesen Dingen sprach, müssen die Jünger ans Ende der Heidenherrschaft und an den ruhmvollen Wiederaufstieg Israels gedacht haben; beides wird in den hebräischen Schriften so viele Male prophezeit. Sie wussten, dass diese Ereignisse in der „Zeit des Endes“, in der „letzten Zeit“, eintreten sollten (Daniel 8,17; 11,35 u. 40; 12,4 u. 9). Dann sollte der Messias erscheinen oder „kommen“, um das Reich Gottes aufzurichten. Das bedeutete, dass Israel sich zu nationaler Grösse erheben und die Speerspitze des Reiches bilden würde.
Die Jünger – die Jesus für den Messias hielten – drängte es natürlich zu erfahren, ob die „Zeit des Endes“ nun gekommen war. Es herrschten hohe Erwartungen, Jesus werde bald verkünden, dass er der Messias sei (Johannes 2,12-18). Kein Wunder denn, dass die Jünger den Meister drängten, er möge sich erklären zur Art und Weise und zur Zeit seines „Kommens“.
Als Jesus auf dem Ölberg sass, traten die aufgeregten Jünger zu ihm und wollten privat ein paar „Insider“-Auskünfte. „Sage uns“, baten sie, „wann wird das geschehen? und was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt?“ (Matthäus 24,3.) Sie wollten wissen, wann die von Jesus über Jerusalem prophezeiten Dinge eintreten würden, denn sie brachten sie zweifellos in Zusammenhang mit der Endzeit und seinem „Kommen“.
Wenn die Jünger vom „Kommen“ sprachen, hatten sie kein „zweites“ Kommen im Sinn. Nach ihrer Vorstellung sollte der Messias kommen und sehr bald in Jerusalem sein Reich errichten, und es sollte „ewig“ währen. Eine Teilung in ein „erstes“ und „zweites“ Kommen kannten sie nicht.
Einen weiteren wichtigen Punkt gilt es zu Matthäus 24,3 zu berücksichtigen, denn der Vers ist eine Art inhaltliche Zusammenfassung des gesamten Kapitels 24. Die Frage der Jünger sei wiederholt und einige Schlüsselworte kursiv gesetzt: „Sage uns“, baten sie, „wann wird das geschehen? und was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt?“ Sie wollten wissen, wann die von Jesus über Jerusalem prophezeiten Dinge eintreten würden, denn sie brachten sie in Zusammenhang mit dem „Ende der Welt“ (genau: Ende der Weltzeit, Ära) und seinem „Kommen“.
Drei Fragen der Jünger schälen sich heraus. Erstens wollten sie wissen, wann „das“ geschehen sollte. Mit „das“ könnte die Verwüstung Jerusalems und des Tempels gemeint sein, dessen Zerstörung Jesus gerade eben prophezeit hatte. Zweitens wollten sie wissen, welches „Zeichen“ sein Kommen ankündigen werde; Jesus nennt es ihnen, wie wir sehen werden, später in Kapitel 24, Vers 30. Und drittens wollten die Jünger das Wann des „Endes“ erfahren. Jesus sagt ihnen, dies sei ihnen nicht bestimmt zu wissen (24,36).
Wenn wir diese drei Fragen – und Jesu Antworten darauf – gesondert betrachten, ersparen wir uns eine ganze Reihe mit Matthäus 24 zusammenhängender Probleme und Fehldeutungen. Jesus sagt seinen Jüngern, Jerusalem und der Tempel (das „das“) würden tatsächlich zu ihren Lebzeiten zerstört. Doch das „Zeichen“, um das sie baten, werde im Zusammenhang mit seinem Kommen, nicht der Zerstörung der Stadt stehen. Und auf die dritte Frage antwortet er, die Stunde seiner Wiederkehr und des „Endes“ der Weltzeit wisse niemand.
Drei Fragen also in Matthäus 24 und drei gesonderte Antworten, die Jesus darauf gibt. Diese Antworten entkoppeln Ereignisse, die in den Jüngerfragen eine Einheit bilden, und zerschneiden ihren zeitlichen Zusammenhang. Jesu Wiederkunft und das „Ende der Weltzeit“ können also durchaus noch in der Zukunft liegen, obwohl die Zerstörung Jerusalems (70 n. Chr.) schon sehr weit zurückliegt.
Das heisst – wie gesagt – nicht, dass die Jünger die Zerstörung Jerusalems vom „Ende“ getrennt betrachtet hätten. Das haben sie mit fast 100prozentiger Sicherheit nicht getan. Und ausserdem haben sie mit dem alsbaldigen Eintreten der Ereignisse gerechnet (Theologen haben dafür das Fachwort „Naherwartung“).
Schauen wir, wie diese Fragen in Matthäus 24 weiterbehandelt werden. Zunächst stellen wir fest, dass Jesus offenbar kein besonderes Interesse hat, über die Umstände „des Endes“ zu sprechen. Seine Jünger sind es, die bohren, die Fragen stellen, und Jesus geht auf sie ein und gibt einige Erklärungen dazu ab.
Wir erkennen auch, dass die Fragen der Jünger zum „Ende“ mit hoher Sicherheit von einem Fehlschluss ausgehen – nämlich dass die Ereignisse sehr bald, und gleichzeitig, eintreten würden. So überrascht es nicht, dass sie mit Jesu „Kommen“ als Messias in der allernächsten Zukunft rechneten, in dem Sinn, dass es in wenigen Tagen oder Wochen eintreten könnte. Dennoch wollten sie ein handgreifliches „Zeichen“ seines Kommens zur Bestätigung. Mit diesem Eingeweihtenoder Geheimwissen wollten sie sich in vorteilhafte Positionen bringen, wenn Jesus seinen Schritt tat.
In diesem Kontext sollten wir Jesu Bemerkungen aus Matthäus 24 sehen. Der Anstoss zur Diskussion geht von den Jüngern aus. Sie glauben, Jesus schicke sich an, die Macht zu ergreifen, und wollen das „Wann“ wissen. Sie wollen ein vorbereitendes Zeichen. Dabei haben sie Jesu Mission völlig missverstanden.
Statt die Fragen der Jünger wunschgemäss direkt zu beantworten, nutzt Jesus die Gelegenheit, um ihnen drei wichtige Lehren nahe zu bringen.
Die erste Lehre:
Das Szenario, nach dem sie fragten, war weitaus komplizierter, als die Jünger in ihrer Naivität dachten.
Die zweite Lehre:
Wann Jesus „kommen“ – oder wie wir sagen würden: „wiederkommen“ – würde, war ihnen nicht bestimmt zu wissen.
Die dritte Lehre:
Die Jünger sollten „wachen“, ja, dabei aber mehr und mehr ihre Beziehung zu Gott und weniger das lokale Geschehen oder Weltgeschehen im Auge behalten. Unter Berücksichtigung dieser Prinzipien und der vorangegangenen Diskussion sei nun gezeigt, wie Jesu Gespräch mit seinen Jüngern sich entwickelt. Zuallererst warnt er sie, sich nicht täuschen zu lassen von Ereignissen, die wie Endzeitereignisse aussehen könnten, es aber nicht sind (24, 4-8). Einschneidendes und Katastrophales „muss“ geschehen, „aber es ist noch nicht das Ende da“ (Vers 6).
Dann kündigt Jesus den Jüngern Verfolgung, Chaos und Tod an (24,9-13). Wie erschreckend muss das für sie gewesen sein! „Was soll dieses Gerede von Verfolgung und Tod?“ müssen sie gedacht haben. Die Gefolgsleute des Messias sollten doch triumphieren und siegen, nicht niedergemetzelt und vernichtet werden, dachten sie.
Dann beginnt Jesus davon zu sprechen, dass der ganzen Welt ein Evangelium verkündigt werden soll. Danach soll dann „das Ende kommen“ (24,14). Auch dies muss die Jünger verwirrt haben. Sie dachten wahrscheinlich, erst werde der Messias „kommen“, dann werde er sein Reich errichten, und dann erst werde das Wort des Herrn hinausgehen in alle Welt (Jesaja 2,1-4).
Als nächstes scheint Jesus eine Kehrtwendung zu machen und spricht wieder von der Verheerung des Tempels. Es solle ein „Gräuelbild der Verwüstung stehen an der heiligen Stätte“, und „alsdann fliehe auf die Berge, wer in Judäa ist“ (Matthäus 24,15-16). Unvergleichlicher Schrecken soll über die Juden hereinbrechen. „Denn es wird dann eine grosse Bedrängnis sein, wie sie nicht gewesen ist vom Anfang der Welt bis jetzt und auch nicht wieder werden wird“, sagt Jesus (24,21). So furchtbar soll es werden, dass niemand am Leben bliebe, wenn diese Tage nicht verkürzt würden.
Zwar haben Jesu Worte auch eine weltweite Perspektive, doch hauptsächlich spricht er von Ereignissen in Judäa und Jerusalem. „Denn grosse Not wird über dem Land sein und Zorn über diesem Volk“, heisst es bei Lukas, womit der Kontext der Äusserungen Jesu näher umrissen ist (Lukas 21,23, Elberfelder Bibel, Hervorhebungen von der Redaktion). Der Tempel, Jerusalem und Judäa stehen im Brennpunkt der Warnung Jesu, nicht die ganze Welt. Die apokalyptische Warnung, die Jesus ausspricht, bezieht sich vorrangig auf die Juden in Jerusalem und Judäa. Die Ereignisse von 66-70 n.Chr. haben das bestätigt.
Es überrascht daher nicht, dass Jesus sagt: „Bittet aber, dass eure Flucht nicht geschehe im Winter oder am Sabbat“ (Matthäus 24,20). Manche fragen sich: Wieso erwähnt Jesus den Sabbat, wenn der Sabbat doch für die Kirche nicht mehr verbindlich ist? Da Christen sich nicht mehr um den Sabbat kümmern müssen, wieso wird er hier eigens als Hindernis genannt? Die Juden glaubten, dass es am Sabbat verboten sei, Reisen zu unternehmen. Sie hatten offenbar sogar ein Mass für die Höchstentfernung, die an diesem Tag zurückgelegt werden durfte, nämlich einen „Sabbatweg“ (Apostelgeschichte 1,12). Bei Lukas entspricht das der Entfernung zwischen dem Ölberg und der Innenstadt (laut Anhang in der Lutherbibel waren es 2000 Ellen, rund 1 Kilometer). Doch Jesus sagt, es sei eine weite Flucht bis in die Berge notwendig. Ein „Sabbatweg“ würde sie nicht aus der Gefahrenzone bringen. Jesus weiss, dass seine Zuhörer glauben, am Sabbat dürften sie weite Fluchtwege nicht unternehmen.
Das erklärt, warum er die Jünger auffordert, darum zu bitten, die Flucht möge nicht auf einen Sabbat fallen. Diese Aufforderung ist im Zusammenhang mit ihrem damaligen Verständnis des mosaischen Gesetzes zu sehen. Wir können Jesu Überlegung ungefähr so zusammenfassen: Ich weiss, dass ihr nicht an lange Reisen am Sabbat glaubt, und ihr werdet keine unternehmen, weil ihr glaubt, dass das Gesetz es so fordert. Wenn also die Dinge, die über Jerusalem kommen sollen, auf einen Sabbat fallen, werdet ihr ihnen nicht entrinnen und werdet den Tod finden. Deshalb rate ich euch: Betet, dass ihr nicht am Sabbat fliehen müsst. Denn auch wenn sie sich doch zur Flucht entschlössen, stellten die Reisebeschränkungen, die allgemein in der jüdischen Welt herrschten, ein schweres Hindernis dar.
Wie bereits gesagt, können wir diesen Teil der Warnungen Jesu auf die Zerstörung Jerusalems beziehen, die im Jahre 70 geschah. Judenchristen in Jerusalem, die noch das Gesetz des Mose hielten (Apostelgeschichte 21,17-26), würden davon betroffen werden und würden fliehen müssen. Sie würden in Gewissenskonflikte mit dem Sabbatgesetz kommen, sollten die Umstände eine Flucht an diesem Tage verlangen.
Unterdessen fuhr Jesus in seiner Rede fort, die den Sinn hatte, die drei Fragen seiner Jünger zum „Wann“ seines Kommens zu beantworten. Wir stellen fest, dass er ihnen bisher im Prinzip nur erklärt hat, wann er nicht kommen wird. Er trennt die Katastrophe, die über Jerusalem hereinbrechen wird, vom „Zeichen“ und vom Kommen „des Endes“ ab. An diesem Punkt müssen die Jünger geglaubt haben, die Verheerung Jerusalems und Judäas sei das „Zeichen“, das sie suchten. Aber sie irrten, und Jesus weist sie auf ihren Irrtum hin. Er sagt: „Wenn dann jemand zu euch sagen wird: Siehe, hier ist der Christus! oder da!, so sollt ihr’s nicht glauben“ (Matthäus 24,23). Es nicht glauben? Was sollten die Jünger davon halten? Sie müssen sich gefragt haben: Da flehen wir um Antwort, wann er denn nun sein Reich errichtet, da flehen wir ihn an, uns ein Zeichen dafür zu nennen, und er redet nur davon, wann das Ende nicht kommt, und nennt Dinge, die wie das Zeichen aussehen, es aber nicht sind.
Trotzdem fährt Jesus fort, den Jüngern zu sagen, wann er nicht kommen, nicht erscheinen werde. „Wenn sie also zu euch sagen werden: Siehe, er ist in der Wüste!, so geht nicht hinaus; siehe, er ist drinnen im Haus!, so glaubt es nicht“ (24,26). Er will damit verdeutlichen: Die Jünger sollen sich nicht irremachen lassen, weder von Weltereignissen noch von Menschen, die zu wissen glaubten, das Zeichen des Endes sei eingetreten. Vielleicht will er ihnen sogar sagen, dass auch der Fall Jerusalems und des Tempels „das Ende“ noch nicht ankündigen.
Nun Vers 29. Hier beginnt Jesus, den Jüngern endlich etwas über das „Zeichen“ seines Kommens zu erzählen, d. h. er beantwortet ihre zweite Frage. Sonne und Mond sollen sich verfinstern, und „die Sterne“ (vielleicht Kometen oder Meteoriten) sollen vom Himmel fallen. Das ganze Sonnensystem soll ins Wanken kommen.
Schliesslich nennt Jesus den Jüngern das „Zeichen“, auf das sie warten. Er sagt: „Und dann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohns am Himmel. Und dann werden wehklagen alle Geschlechter auf Erden und werden sehen den Menschensohn kommen auf den Wolken des Himmels mit grosser Kraft und Herrlichkeit“ (24,30). Dann fordert Jesus die Jünger auf, vom Feigenbaum ein Gleichnis zu lernen (24,32-34). Sobald die Zweige weich werden und Blätter treiben, weiss man, dass der Sommer naht. „Ebenso auch: wenn ihr das alles seht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist“ (24,33).
„Das alles“ – was ist das? Sind es nur Kriege, Erdbeben und Hungersnöte hier und dort? Nein. Das ist nur der Anfang der Wehen. Es kommen noch viele weitere Bedrängnisse vor „dem Ende“. Endet „das alles“ mit dem Auftreten falscher Propheten und dem Predigen des Evangeliums? Wieder, nein. Erfüllt sich „das alles“ durch die Not in Jerusalem und die Zerstörung des Tempels? Nein. Was also muss man unter „das alles“ fassen?
Ehe wir antworten, eine kleine Abschweifung, ein Vorgriff in der Zeit auf etwas, das die apostolische Kirche lernen musste und von dem die synoptischen Evangelien berichten. Der Fall Jerusalems im Jahre 70, die Zerstörung des Tempels und der Tod vieler jüdischer Priester und Wortführer (und auch einiger Apostel) muss die Kirche hart getroffen haben. Es ist fast sicher, dass die Kirche glaubte, Jesus werde unmittelbar nach diesen Ereignissen wiederkehren. Aber er blieb aus, und das muss manche Christen vor den Kopf gestossen haben.
Nun zeigen freilich die Evangelien, dass vor Jesu Wiederkunft noch weitaus mehr geschehen sollte bzw. soll als nur die Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Aus Jesu Ausbleiben nach dem Fall Jerusalems durfte die Kirche nicht schliessen, dass sie irregeführt worden war. Zur Lehre für die Kirche wiederholen alle drei Synoptiker: Bis man das „Zeichen“ des Menschensohnes am Himmel auftauchen sieht, höre man nicht auf jene, die sagen, er sei schon gekommen oder werde bald kommen.
Nun kommen wir zur Kernbotschaft, die Jesus im Dialog von Matthäus 24 vermitteln will. Seine Worte in Matthäus 24 sind weniger prophetisch gedacht, sie sind vielmehr eine Lehraussage über christliche Lebensführung. Matthäus 24 ist Jesu Mahnung an die Jünger: Seid ständig geistlich bereit, eben weil ihr nicht wisst und wissen könnt, wann ich wiederkomme. Die Gleichnisse in Matthäus 25 verdeutlichen die gleiche Grundaussage. Dies zu akzeptieren – dass der Zeitpunkt unbekannt ist und bleibt –, räumt mit einem Schlage viele Missverständnisse aus, die sich um Matthäus 24 ranken. Das Kapitel sagt, dass Jesus über die genaue Zeit des „Endes“ oder seiner Wiederkunft überhaupt keine Prophezeiungen abgeben will. Das „Wachet“ heisst: seid ständig geistlich wach, seid immer vorbereitet. Und nicht: Verfolgt ständig das Weltgeschehen. Eine „Wann“-Prophezeiung wird nicht abgegeben.
Wie aus der späteren Geschichte ersichtlich, war Jerusalem tatsächlich Brennpunkt vieler turbulenter Geschehnisse und Entwicklungen. 1099 zum Beispiel umzingelten die christlichen Kreuzfahrer die Stadt und schlachteten alle Einwohner ab. Im ersten Weltkrieg nahm der britische General Allenby die Stadt ein und löste sie aus dem Türkischen Reich heraus. Und heute spielen Jerusalem und Judäa, wie wir alle wissen, eine zentrale Rolle im jüdisch-arabischen Konflikt.
Um zusammenzufassen: Auf die Frage der Jünger nach dem „Wann“ des Endes gibt Jesus die Antwort: „Das könnt ihr nicht wissen.“ Eine Aussage, die offenbar schwer verdaulich war und ist. Denn nach seiner Auferstehung bedrängten ihn die Jünger immer noch mit Fragen danach: „Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel?“ (Apostelgeschichte 1,6). Und wieder antwortet Jesus: „Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat ...“ (Vers 7).
Trotz Jesu klarer Lehre haben Christen zu allen Zeiten den Fehler der Apostel wiederholt. Immer wieder häuften sich Spekulationen über die Zeit des „Endes“, immer wieder wurde Jesu Kommen unmittelbar vorausgesagt. Doch die Geschichte hat Jesus Recht und jedem Zahlenjongleur Unrecht gegeben. Ganz einfach: Wir können nicht wissen, wann „das Ende“ kommt.
Was sollen wir nun tun, während wir auf Jesu Wiederkunft warten? Jesus beantwortet es den Jüngern, und die Antwort gilt auch für uns. Er sagt: „Darum wachet; denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt ... Darum seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr’s nicht meint“ (Matthäus 24,42-44). Wachsam sein im Sinne von „das Weltgeschehen beobachten“ ist hier nicht gemeint. Das „Wachen“ bezieht sich auf die Gottbeziehung des Christen. Er muss immer darauf vorbereitet sein, seinem Erschaffer entgegenzutreten.
Im Rest des 24. Kapitels und im 25. Kapitel legt Jesus dann näher aus, was mit „Wachen“ gemeint ist. Im Gleichnis vom treuen und vom bösen Knecht legt er den Jüngern ans Herz, weltliche Sünden zu meiden und sich nicht von der Anziehung der Sünde überwältigen zu lassen (24,45-51). Die Moral? Jesus sagt, der Herr des bösen Knechts werde „kommen an einem Tage, an dem er’s nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt“ (24,50).
Im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen wird eine ähnliche Lehre vermittelt (25,1-25). Einige der Jungfrauen sind nicht bereit, nicht „wach“, als der Bräutigam kommt. Sie werden vom Reich ausgeschlossen. Die Moral? Jesus sagt: „Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde“ (25,13). Im Gleichnis von den anvertrauten Zentnern spricht Jesus von sich selbst als einem Menschen, der auf eine Reise geht (25,14-30). Wahrscheinlich dachte er an seinen Aufenthalt im Himmel vor seiner Wiederkunft. Die Knechte sollten inzwischen das Anvertraute zu treuen Händen verwalten.
Im Gleichnis von den Schafen und Böcken schliesslich spricht Jesus die Hirtenpflichten an, die den Jüngern für die Zeit seiner Abwesenheit gegeben werden. Er lenkt hier ihre Aufmerksamkeit vom „Wann“ seines Kommens auf die Folgen, die dieses Kommen für ihr ewiges Leben hat. Sein Kommen und die Auferstehung sollen ihr Gerichtstag sein. Der Tag, an dem Jesus dieSchafe (seine wahren Nachfolger) von den Böcken (den bösen Hirten) trennt.
Im Gleichnis arbeitet Jesus mit Sinnbildern, die von körperlichen Bedürfnissen der Jünger ausgehen. Sie gaben ihm zu essen, als er hungrig war, gaben ihm zu trinken, als er Durst hatte, nahmen ihn auf, als er ein Fremder war, kleideten ihn, als er nackt war. Die Jünger waren überrascht und sagten, als derart Bedürftigen hätten sie ihn doch nie gesehen.
Jesus aber wollte damit Hirtentugenden verdeutlichen. „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (25,40). Wer ist ein Bruder Jesu? Einer seiner wahren Nachfolger. Also gebietet Jesus den Jüngern, gute Verwalter und Hirten seiner Herde zu sein – seiner Kirche.
So endet der lange Diskurs, in dem Jesus die drei Fragen seiner Jünger beantwortet: Wann wird Jerusalem und der Tempel zerstört? Welches wird das „Zeichen“ seines Kommens sein? Wann tritt das „Ende der Weltzeit“ ein?
Die Jünger hören mit Erschrecken, dass die Tempelbauten zerstört werden sollen. Sie fragen, wann das geschehen soll und wann „das Ende“ und Jesu „Kommen“ eintreten soll. Wie gesagt, sie rechneten aller Wahrscheinlichkeit nach damit, dass Jesus gleich damals den Thron des Messias bestieg und das Gottesreich anbrechen liess in aller Macht und Herrlichkeit. Vor solcher Denkweise warnt Jesus. Es wird eine Verzögerung geben vor „dem Ende“. Jerusalem und der Tempel werden zerstört, aber das Leben der Kirche wird weitergehen. Christenverfolgung und schreckliche Drangsale werden über Judäa kommen. Die Jünger sind schockiert. Sie hatten gedacht, die Jünger des Messias würden einen sofortigen durchschlagenden Sieg erringen, das Gelobte Land werde erobert, der wahre Gottesdienst wiederhergestellt. Und nun diese Vorhersagen der Tempelzerstörung und der Verfolgung der Gläubigen. Doch es kommen noch weitere erschreckende Lehren. Das einzige „Zeichen“, das die Jünger von Jesu Kommen sehen werden, ist sein Kommen selbst. Dieses „Zeichen“ hat keine Schutzfunktion mehr, weil es zu spät kommt. Dies alles führt hin zu Jesu Kernaussage, dass niemand prophezeien kann, wann „das Ende“ eintritt oder wann Jesus wiederkehrt.
Jesus hat die falscher Denkart entspringenden Sorgen seiner Jünger aufgegriffen und eine geistliche Lehre daraus abgeleitet. Mit den Worten D. A. Carsons: „Die Fragen der Jünger werden beantwortet, und der Leser ist gehalten, sich auf die Wiederkunft des Herrn zu freuen und, solange der Meister fern ist, verantwortungsbewusst, gläubig, mitmenschlich und mutig zu leben (24,45-25,46)“ (ebenda, S. 495).
von Paul Kroll