Warten Sie auf Ihre himmlische Wohnung?

424 warten sie auf ihre himmlische wohnungIn zwei bekannten alten Gospelliedern heisst es: „Auf mich wartet eine noch unbewohnte Wohnung“ und „Mein Anwesen liegt gleich hinter dem Berg“. Diese Songtexte basieren auf den Worten Jesu: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?“ (Johannes 14,2). Diese Verse werden zudem gern auf Beerdigungen zitiert, da mit ihnen das Versprechen verbunden ist, Jesu bereite dem Volk Gottes im Himmel einen Lohn, der nach dem Tod auf die Menschen wartet. Aber war es das, was Jesus sagen wollte? Es wäre falsch, wenn wir versuchten, jedes Wort unseres Herrn direkt auf unser Leben zu beziehen, ohne mit zu berücksichtigen, was er seinen damaligen Adressaten damit sagen wollte.

In der Nacht vor seinem Tod sass Jesus mit seinen Jüngern im sogenannten Abendmahlssaal zusammen. Die Jünger waren angesichts dessen, was sie sahen und hörten, schockiert. Jesus wusch ihnen die Füsse, verkündete, unter ihnen befände sich ein Verräter, und erklärte, Petrus werde ihn nicht nur einmal, sondern gleich dreimal verraten. Können Sie sich vorstellen, was sie antworteten? „Dies kann nicht der Messias sein. Er spricht von Leiden, Verrat und Tod. Und wir dachten doch, er sei der Wegbereiter eines neuen Königreichs und wir würden mit ihm zusammen regieren!“ Verwirrung, Verzweiflung, Angst – Emotionen, die uns nur allzu vertraut sind. Enttäuschte Erwartungen. Und dem allen setzte Jesus entgegen: „Sorgt euch nicht! Vertraut mir!“ Er wollte seine Jünger angesichts des drohend näherrückenden Schreckensszenarios seelisch aufbauen und fuhr fort: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“.

Was aber sagten diese Worte den Jüngern? Die Bezeichnung „meines Vaters Haus“ – so wie er in den Evangelien verwendet wird – nimmt Bezug auf den Tempel in Jerusalem (Lukas 2,49, Johannes 2,16). Der Tempel war an die Stelle der Stiftshütte getreten, jenes transportablen Zelts, das die Israeliten zur Anbetung Gottes nutzten. Im Inneren des Tabernakels (von lat. tabernaculum = Zelt, Hütte) befand sich – durch einen dicken Vorhang abgetrennt – ein Raum, der das Allerheiligste genannt wurde. Das war die Heimstätte Gottes („Tabernakel“ heisst im Hebräischen „Mishkan“ = „Wohnstätte“ oder „Bleibe“) inmitten seines Volkes. Einmal im Jahr war es dem Hohepriester alleine vorbehalten, diesen Raum zu betreten, um der Gegenwart Gottes gewahr zu werden.

Des Weiteren ist mit dem Wort „Wohnstätte“ oder auch „Wohnraum“ der Ort gemeint, an dem man lebt, und „es stand im Altgriechischen (der Sprache des Neuen Testaments) gemeinhin nicht für eine feste Bleibe, sondern für eine Zwischenstation auf einer Reise, die einen langfristig an einen anderen Ort führt“. [1] Damit wäre dann etwas anderes gemeint, als nach dem Tod bei Gott im Himmel zu sein; denn der Himmel wird oft als letzte und endgültige Bleibe des Menschen betrachtet.

Jesus sprach nun davon, er werde seinen Jüngern eine Bleibe bereiten. Wohin sollte er gehen? Sein Weg sollte ihn nicht geradewegs in den Himmel führen, um dort Wohnstätten zu errichten, sondern vom Abendmahlssaal ans Kreuz. Mit seinem Tod und seiner Auferstehung sollte er für die Seinen eine Stätte in seines Vaters Haus bereiten (Johannes 14,2). Es war, als wollte er damit sagen: „Alles ist unter Kontrolle. Was geschehen wird, mag schrecklich anmuten, aber es ist alles Teil des Heilsplanes.“ Sodann verhiess er, er werde wiederkommen. In diesem Zusammenhang scheint er damit nicht auf die Parusie (Wiederkunft) anzuspielen (obgleich wir natürlich Christi Erscheinen in Herrlichkeit am Jüngsten Tag entgegensehen), sondern wir wissen ja, dass Jesu Weg ihn an das Kreuz führen sollte und dass er drei Tage darauf als vom Tode Auferstandener wiederkehren würde. Ein weiteres Mal kehrte er in Gestalt des Heiligen Geistes am Pfingsttag zurück.

„...will ich wieder kommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin“ (Johannes 14,3), sagte Jesus. Lassen Sie uns einen Moment bei den hier gebrauchten Worten „zu mir“ verweilen. Sie sind im selben Sinne zu verstehen wie die Worte im Johannesevangelium 1,1, die uns verkünden, dass der Sohn (das Wort) bei Gott war. Was auf das griechische „pros“ zurückgeht, das sowohl „zu“ als auch „bei“ heissen kann. Mit der Wahl dieser Worte zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn verweist der Heilige Geist auf deren innige Beziehung zueinander. In einer Bibelübersetzung werden die Verse wie folgt wiedergegeben: „Am Anfang war das Wort. Das Wort war bei Gott, und in allem war es Gott gleich...“ [2]

Leider stellen sich nur allzu viele Menschen Gott als irgendwo im Himmel als ein Einzelwesen vor, das uns aus weiter Ferne beobachtet. Die scheinbar so unbedeutenden Worte „zu mir“ und „bei“ spiegeln eine vollkommen andere Facette des göttlichen Wesens wider. Es geht dabei um Teilhabe und Innigkeit. Es geht um eine Beziehung von Angesicht zu Angesicht. Die ist tief und innig. Was aber hat das mit Ihnen und mir heute zu tun? Lassen Sie mich, bevor ich zur Beantwortung dieser Frage komme, kurz noch einmal auf den Tempel eingehen.

Als Jesus starb, riss der Vorhang im Tempel mitten entzwei. Dieser Riss symbolisiert einen neuen Zugang zur Gegenwart Gottes, der sich damit eröffnete. Der Tempel war nicht mehr seine Heimstätte. Eine völlig neue Beziehung zu Gott stand von nun an jedem einzelnen Menschen offen. In der Übersetzung der Guten Nachricht Bibel lesen wir in Vers 2: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen“ Im Allerheiligsten war nur Raum für einen Menschen, jetzt aber war es zu einem radikalen Wandel gekommen. Gott hatte in der Tat bei sich, in seinem Haus, Raum für alle Menschen geschaffen! Dies war möglich geworden, weil der Sohn Fleisch geworden war und uns vom Tod sowie von der zerstörerischen Kraft der Sünde erlöste, zum Vater zurückkehrte und die ganze Menschheit zu sich in die Gegenwart Gottes zog (Johannes 12,32). Noch am selben Abend sprach Jesus: „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Johannes 14,23). Wie schon in Vers 2 ist auch hier die Rede von „Wohnungen“. Erkennen Sie, was das bedeutet?

Welche Vorstellungen verbinden Sie mit einem guten Zuhause? Vielleicht: Frieden, Ruhe, Freude, Schutz, Unterweisung, Vergebung, Vorsorge, bedingungslose Liebe, Akzeptanz und Hoffnung, um nur einige wenige zu nennen. Jesus kam jedoch nicht nur auf die Erde, um für uns den Sühnetod auf sich zu nehmen, sondern auch, um uns an all diesen mit einem guten Zuhause verbundenen Vorstellungen teilhaben und uns jenes Leben erfahren zu lassen, das er mit seinem Vater zusammen mit dem Heiligen Geist führt.

Jene unglaubliche, einzigartige und innige Beziehung, die Jesus selbst allein mit seinem Vater verband, steht auch uns nun offen: „damit ihr seid, wo ich bin“ heisst es in Vers 3. Und wo ist Jesus? „mit dem Vater in engster Gemeinschaft“ (Johannes 1,18, Gute Nachricht Bibel) oder, wie es in einigen Übersetzungen heisst: „in des Vaters Schoss“. Ein Wissenschaftler drückt es so aus: „Im Schosse von jemandem zu ruhen bedeutet, in seinen Armen zu liegen, von ihm als Ziel innigster Zuwendung und äusserster Zuneigung geschätzt zu werden, oder, wie es so schön heisst, sein Busenfreund zu sein.“ [3] Ebendort ist Jesus. Und wo sind wir gegenwärtig? Wir haben teil am Himmelreich Jesu (Epheser 2,6)!

Befinden Sie sich gerade in einer schwierigen, entmutigenden, bedrückenden Lage? Seien Sie gewiss: Jesu Trost spendende Worte richten sich an Sie. So wie er einst seine Jünger bestärken, ermutigen und festigen wollte, so tut er es mit denselben Worten auch Ihnen gegenüber: „Sorge dich nicht! Vertrau mir!“ Lassen Sie sich nicht von Ihren Sorgen niederdrücken, sondern setzen Sie auf Jesus, und denken Sie über das, was er sagt – und was er ungesagt lässt –, nach! Er sagt eben nicht, sie müssten tapfer sein, und schon werde sich alles zum Rechten kehren. Er garantiert Ihnen nicht vier Schritte zu Glück und Wohlstand. Er verspricht nicht, er werde Ihnen eine Heimstatt im Himmel bereiten, die Sie erst einnehmen könnten, wenn Sie tot sind – und somit sei es all Ihr Leiden wert. Vielmehr macht er deutlich, dass er den Kreuzestod erlitt, um all unsere Sünden auf sich zu nehmen, sie mit sich selbst am Kreuz festzunageln, damit alles, was uns von Gott und dem Leben in seinem Haus trennen kann, getilgt sei.

Aber das ist nicht alles. Sie sind in Liebe in das dreieinige Leben Gottes einbezogen, auf dass Sie an der innigen Gemeinschaft mit dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist – an Gottes Leben – von Angesicht zu Angesicht teilhaben können. Er will, dass Sie an ihm und allem, wofür er steht, schon jetzt teilhaben. Er spricht: „Ich erschuf dich, damit du in meinem Haus leben kannst.“

Gebet

Vater von allen, wir bringen dir, der du uns, als wir noch getrennt von dir waren, in deinem Sohn entgegenkamst und uns heimbrachtest, unseren Dank und unseren Lobpreis dar! Im Sterben und im Leben verkündete er uns deine Liebe, schenkte uns Gnade und öffnete uns das Tor zur Herrlichkeit. Mögen wir, die wir teilhaben an Christi Leib, auch sein auferstandenes Leben führen; wir, die wir aus seinem Kelch trinken, erfüllen das Leben anderer; wir, die wir vom Heiligen Geist erleuchtet sind, sind der Welt ein Licht. Bewahre uns in der Hoffnung, die du uns verheissen hast, auf dass wir und alle unsere Kinder frei sein mögen und die ganze Erde deinen Namen preise – durch Christus unseren Herrn. Amen [4]

von Gordon Green


pdfWarten Sie auf Ihre himmlische Wohnung?

 

Anmerkungen:

[1] N.T. Wright, Surprised By Hope (dt.: Von der Hoffnung überrascht), S. 150.

[2] Rick Renner, Dressed to Kill (dt. Titel: Gerüstet zum Kampf), S. 445; hier zitiert nach der Guten Nachricht Bibel.

[3] Edward Robinson, A Greek and English Lexicon of the NT (dt.: Griechisch-Englisches Lexikon des Neuen Testaments), S. 452.

[4] Gebet nach dem Heiligen Abendmahl gemäss der eucharistischen Liturgie der Schottisch-Episkopalen Kirche, zitiert nach Michael Jinkins, Invitation to Theology (dt.: Einführung in die Theologie), S. 137.